Übersetzung
Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer dunkel. Die Schiffahrtslinien leuchteten noch einmal auf und erloschen. Die Fluglinien sanken wie eine Vermessenheit. Ängstlich sammelten sich die Inselgruppen. Das Meer überflutete alle Langen- und Breitengrade. Es verlachte das Wissen der Welt, schmiegte sich wie schwere Seide gegen des helle Land, und ließ die Südspitze von Afrika nur wie eine Ahnung im Dämmern. Es nahm den Küstenlinien die Begründung und milderte ihre Zerrissenheit.
Die Dunkelheit landete und bewegte sich langsam gegen Norden. Wie eine große Karavane zog sie die Wüste hinauf. Breit und anaufhaltsam.
Ellen schob die Matrosenmütze aus dem Gesicht und zog die Stirne hoch. Plötzlich legte sie die Hand auf das Mittelmeer. Eine heiße, kleine Hand. Aber es half nichts mehr. Die Dunkelheit war in die Häfen von Europa eingelaufen.
Schwere Schatten sanken durch die weißen Fensterrahmen. Im Hof rauschte ein Brunnen. Irgendwo verebbte ein Lachen. Eine Fliege kroch von Dover nach Calais.
Ellen sprang vom Sessel. Ihr Matrosenmantel stand erschrocken offen. Sie legte den Kopf auf das Fensterbrett und zog ihn wieder zurück. Ellen fror.
Sie riß die Landkarte von der Wand und breitete sie auf den Fußboden. Und sie faltet aus ihrer Tramwaykarte ein weißes Papierschiff mit einem breiten Segel in der Mitte.
Das Schiff ging von Hamburg aus in See. Das Schiff trug Kinder. Kinder, mit denen irgend etwas nicht in Ordnung war. Das Schiff war vollbeladen. Es fuhr die Westküste entlang und nahm immer noch Kinder auf, Kinder mit langen Manteln und ganz kleinen Rucksäcken, Kinder, die fliehen mußten. Keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu bleiben, und keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu gehen.
Kinder mit falschen Großeltern, Kinder ohne Paß und ohne Visum, Kinder, für die niemand mehr bürgen konnte. Deshalb fuhren sie bei Nacht. Niemand wußte davon. Sie wichen den Leuchttürmen aus, und machten große Bogen um die Ozeandampfer. Wenn sie Fischerbooten begegneten, baten sie um Brot. Um Mitleid baten sie niemanden.
In der Mitte des Ozeans streckten sie die Köpfe über den Schiffsrand und begannen zu singen.
Summ, summ, summ, Bienchen, summ herum…“. „It’s a long way to Tipperary…“.“Häschen in der Grube“, und noch vielesandere! Der Mond legte eine silberne Christbaumkette über das Meer. Er wußte, daß sie keinen Steuermann hatten. Der Wind fuhr hilfreich in ihre Segel. Er fühlte mit ihnen, er war auch einer von denen, für die niemand garantieren konnte. Ein Haifisch schwamm neben ihnen her. Er hatte sich das Recht ausgebeten, sie vor den Menschen beschützen zu dürfen. Wenn er Hunger bekam, gaben sie ihm von ihrem Brot. Und er bekam ziemlich oft Hunger. Auch für ihn konnte niemand garantieren.
Er erzählte den Kindern, daß Jagd nach ihm gemacht wurde, und die Kinder erzählten ihm, daß Jagd nach ihnen gemacht wurde, daß sie heimlich fuhren und daß es sehr aufregend war. Sie hatten keinen Paß und kein Visum. Aber sie wollten um jeden Preis hinüberkommen.
Der Haifisch tröstete sie, wie nur ein Haifisch trösten kann. Und er blieb neben ihnen.
Ein U-Boot tauchte vor ihnen auf. Sie erschraken sehr, aber als die Matrosen sahen, daß manche von den Kindern Matrosenmützen trugen, warfen sie ihnen Orangen zu und taten ihnen nichts.
Als der Haifisch den Kindern gerade einen Witz erzählen wollte, um sie von ihren traurigen Gedanken abzulenken, brach ein furchtbarer Sturm los. Der arme Halfisch wurde von einer riesigen Woge weit hinausgeschleudert. Entsetzt riß der Mond die Christbaumkette zurück. Kohlschwarzes Wasser spritzte über das kleine Schiff. Die Kinder schrien
laut um Hilfe. Niemand hatte für sie gebürgt. Keines von innen hatte einen Rettungsgürtel.
Groß und licht und unerreichbar tauchte die Freiheitsstatue aus dem Schrecken. Zum ersten und zum letzten Mal!
Ellen schrie im Schlaf. Sie lag quer über der großen Landkarte und wälzte sich unruhig zwischen Europa und Amerika hin und her. Mit ihren ausgestreckten Armen erreichte sie Sibirien und Hawai. In der Faust hielt sie das kleine Papierschiff, und sie hielt es fest.
Die weißen Bänke mit den roten Samtpolstern liefen erstaunt im Kreis. Die hohen, glänzenden Türen zitterten leise. Die großen, bunten Plakate wurden dunkel vor diesem Schmerz.
Ellen weinte. Ihre Tränen befeuchteten den Pazifischen Ozean. Ihre Matrosenmütze war vom Kopf gefallen und bedeckte den unerforschten Teil des Nordpols. Es lag sich hart genug auf dieser Welt.