Nationalismus &
Nationalitäten

Nationalismus & Nationalitäten

Das 19. Jahrhundert gilt in Mitteleuropa als Entstehungszeit des modernen Nationalismus, dessen Tendenz zur Konstituierung eines Kollektivs sich zum einen in der Bildung kultureller Differenzen, zum anderen im politischen Unabhängigkeitsstreben niederschlägt. Der Wille zur Nation spiegelte sich im nationalen Sprachgebrauch, in einer Fülle von literarischen Fiktionen, in der enthusiastischen bis kämpferischen Rhetorik der Presse wider, und förderte die Produktion von volkstümlichen Kunstwerken, Trachten und Ritualen, sowie die Stiftung von Monumenten und Institutionen. In der verfassungsmäßig garantierten dualistischen Ordnung wurden die Rechte der Nationalitäten seit 1867 zwar garantiert, aber in der Praxis insbesondere in der transleithanischen Reichshälfte nur unzureichend umgesetzt. Die Inanspruchnahme gesicherter Vorrechte durch die beiden privilegierten Nationen und die Reklamierung politischer Emanzipation durch die benachteiligten Nationalitäten der Doppelmonarchie führten dazu, dass sich divergierende Formen und Strategien der national-kulturellen Selbstpositionierung und der Artikulierung kultureller Differenz etablierten.

Während die ungarischen Adelskreise seit den 1830er Jahren noch auf die Idee der Staatsnation zurückgriffen, motivierte seit dem Ausgleich die Idee der nationalen Sprach- und Kulturgemeinschaft nicht nur die ungarischen, sondern zunehmend auch die tschechischen, kroatischen und polnischen Nationalisten. Sie wurde auch für die Vertretung der slowakischen, der slowenischen, der ruthenischen und der rumänischen Nationalbewegung bestimmend und mündete letztlich in den Wunsch nach politischer Autonomie. Die nationale Bewusstseinsbildung beschwor eine schleichende innenpolitische Krise herauf, die bis nach dem Kriegsausbruch in einen Zwiespalt der politischen und kulturellen Identitäten mündete und nach 1918 den politischen Zerfall beschleunigte.

Im Hinblick auf die Multiethnizität der Doppelmonarchie kann der Nationalismus dennoch nicht als essentielle politische Idee, auch nicht als einheitliche Ideologie oder einziges modernes Selbst- und Weltverständnis definiert werden. Die ethnische, sprachliche und kulturelle Diversität der Monarchie wurde durch Migration gefördert, die der historischen Konstellation weitere kulturelle Dynamik verlieh. Diese Problemlage erweckte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das wissenschaftliche Interesse für Nationalitäten: Die Völker der Monarchie wurden – internationalen Trends der Geopolitik und der Statistik folgend – mit ihren Sprachen, demographischen Wandlungen und Territorien bei Volkszählungen quantitativ erfasst, kartografisch dargestellt und zum öffentlichen Diskursgegenstand gemacht. Der Nationalitätenbegriff stellte trotz des kulturellen und politischen Autonomiebestrebens bzw. des starken ethnografischen Interesses keine relevante Größe in der administrativen Praxis des Reichs dar. Denn im Habsburgerreich galten einem vormodernen und vielleicht doch zukunftsträchtigen Verständnis der Nation zufolge Völker, Sprachen, Religionen und Sitten als quasi gleichrangige pluralistische Realitäten. Der Komplexität der Gesamtsituation entsprechend stellten die Nationalismen nur einen – wenngleich markanten – Faktor der Herausbildung moderner Identitäten in der Donaumonarchie dar: Etliche Lebenssituationen und -bereiche wurden von Mischehen, Mehrsprachigkeit, Migration bestimmt und folglich blieb ein Großteil der Bevölkerung bis zum Zusammenbruch des Habsburgerreiches national indifferent.

Die Friedensverträge von 1920 und die neue politische Karte Zentraleuropas entschärften die im Krieg eskalierten Nationalitätenkonflikte keineswegs, sie steigerten sich zu anhaltenden Spannungen sowohl zwischen den als auch innerhalb der neu errichteten Nationalstaaten. Die konkurrierenden Nationalismen wurden in der Zwischenkriegszeit politisch dominant und prägten – mit Ausnahme Österreichs – die jeweilige Staatsideologie. Die propagierte Idee einer exklusiv nationalen Volksgemeinschaft begünstigte Tendenzen zum Antisemitismus, Krieg und Militarismus, sowie zu rassistischen und homophoben Geschlechterbildern, die die kulturellen Spannungen und die soziale Ausgrenzung ankurbelten. Nach 1945 blühte der politische Nationalismus noch einmal auf, wurde erst allmählich zugunsten der Bildung grenzüberschreitender politisch-ideologischer Staatenverbände zurückgedrängt.