Slowakischer Bericht über die ungarische Vergangenheit. (Der Roman „Die lebende Peitsche“ von Milo Urban)
- Autor*in: Rezső Szalatnai
- Übersetzt von: Orsolya Rauzs
- Behandelte Person: Milo Urban
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1939
- Erschienen in: Századunk
- Ausgabe-Datum: 1939
- Sprachen: Deutsch
- Gattung: Rezension
Übersetzung
Rezső Szalatnai (Bratislava):
Slowakischer Bericht über die ungarische Vergangenheit
(Der Roman „Die lebende Peitsche“ von Milo Urban)
Vor einigen Monaten erschien die ungarische Übersetzung des berühmten Romans Živý bič, Die lebende Peitsche des slowakischen Schriftstellers Milo Urban (zugleich Redakteurs der Slovák, der großen Tageszeitung der Hlinka-Partei), aber in der Turbulenz der Politik wurde das Buch nicht gewürdigt. Doch die Literatur hat in den Angelegenheiten zweier, dazu noch benachbarter Völker auch dann etwas Wichtiges zu sagen, wenn über Fragen entschieden wird, die scheinbar weit vom literarischen Schaffen entfernt sind. Denn auch die Literatur kann manchmal ein politischer Faktor sein: Sie kann Brücken bauen, wenn es nötig ist, und sie kann Gräben ausheben, wenn es richtig ist. Die lebende Peitsche ist auch ein solches Werk. Eigentlich handelt es sich um belletristische Memoiren über ein slowakisches Dorf, das in die Wirren des Weltkriegs gerät. Man könnte meinen, dass dieses Werk angesichts der heutigen europäischen Unruhen zu spät erschienen ist, aber für uns Ungarn ist es ein wichtiges und lesenswertes Buch. Im Grunde genommen ist Urbans Werk ein slowakischer Bericht über die ungarische Vergangenheit. Über eine Vergangenheit, deren Elemente heute hundertfach erwähnt, befragt und von beiden Seiten als Beweis angesehen werden. […]
Živý bič wurde vor zehn Jahren veröffentlicht. Zehn Jahre alte Romane unterliegen heute einem raschen Wandel des Geschmacks. Dagegen ist der Roman von Milo Urban nach wie vor lebendig und wird immer wieder neu aufgelegt. Seine ungarische Übersetzung ist daher gerechtfertigt. Die Ereignisse und Figuren sowie die alles antreibenden heftigen Gefühle, die im Roman geschildert werden, vibrieren wieder vor unseren Augen. Die slowakische Realität, die Milo Urban darzustellen versucht, entwickelt sich ständig weiter. Und die ungarische Vergangenheit, die jede Zeile des Romans thematisiert, vermischt sich heute wieder stark mit der ungarischen Gegenwart. Im Donaugebiet unter den Karpaten, wo das slowakische und das ungarische Volk jahrhundertelang gegen alle fremden Eroberer und Ausbeutungswilligen Schulter an Schulter gekämpft haben, scheitern die kleinen Pläne, und die Erkundung von Gefühl und Verstand geht zurück zu den Wurzeln der nationalen Existenzformen, jenseits des heutigen Wandels der politischen Formen. Aus der ungarischen These und der slowakischen Antithese entsteht eine Synthese, die das Volk und die Landschaft zur ultimativen Berufung und Erlebnisgemeinschaft führt. Das Buch von Milo Urban hat ernsthaft darauf aufmerksam gemacht als der Text einer slowakischen Antithese.
Die lebende Peitsche ist der Weltkrieg selbst. Sie ist ein Roman über eine Welt im Krieg und über ein winziges slowakisches Dorf des Komitats Arwa. Über ein slowakisches Dorf, das von den Winden des Kriegs fast hinweggefegt wird, obwohl die Fronten weit weg sind. Diese Fronten sind aber wie die Drachen in den Märchen, die auf dem Grund tiefer Brunnen, in fernen Unterwelten und jenseits der sieben Meere liegend ihre Opfer fordern und mit der Vernichtung der Landschaft drohen, wenn die Menschen ihren Willen nicht erfüllen. So lebt das entlegene Dörfchen in den Wirren des Kriegs und wird von dessen grausamen Peitschenhieben getroffen, gepeinigt, erschüttert und aufgereizt. Doch dann schlägt die Stunde der großen Wut: Das Dorf rebelliert und wird selbst zur Peitsche, die vielleicht noch grausamer und maßloser schwingt als die Peitsche des Krieges selbst. Sie zerschlägt das System, das sie gedemütigt hat. Nach diesem Remarqueschen Rückblick geht der junge slowakische Schriftsteller plötzlich zur Schilderung des schockierenden Zerfalls einer slowakisch-ungarischen politischen Gemeinschaft über. Wir alle erinnern uns an diese Ereignisse, an die Erlebnisse des Wandels im Jahr 1918 sowie die heftigen Tage in den slowakischen Dörfern. Und auch wenn wir Urbans Darstellung oft übertrieben finden, müssen wir seinen Bericht als authentisch akzeptieren. War die ungarische Welt in unserem gemeinsamen Heimatland wirklich so beschaffen? Wir stimmen denen zu, die sagen werden, dass dieser politische Roman für die Ungarn voller Nägel ist, die auf Schritt und Tritt verletzen, genauso wie der nüchterne Mensch von Fehlern gequält wird, die unter anderen Umständen begangen wurden und die auch wir unvoreingenommen prüfen müssen. Ein solches Bekenntnis darf eine konstruktive ungarische Generation nicht der Musik des Vergessens überlassen, sondern mit aufrichtiger Beharrlichkeit einer ernsthaften Analyse unterziehen! Wir wagen zu behaupten, dass diese Reaktion in Taten umgesetzt werden wird. Aber denken wir jetzt über den Roman nach.
Urbans Roman verwebt die Ereignisse einer außergewöhnlichen Zeit zu einem Epos: Der Schriftsteller beschreibt den teuflischen, qualvollen und schmutzigen Krieg, der das Leben des slowakischen und des ungarischen Dorfs gleichzeitig und gleichermaßen zerstörte. Wenn man die großen Werke der ungarischen Kriegsliteratur auflisten würde – die großartige Klagelyrik von Ady, Babits und Gyóni, die schockierenden Novellen von Móricz, den Roman von Dezső Szabó, die Memoiren von Aladár Kuncz und Rodion Markovits oder Krisztus vagy Barabbás [Christus oder Barabbas] von Frigyes Karinthy –, könnte man einen ungarischen Parallelbericht über den Krieg präsentieren. Urban malt uns daneben auch ein Bild der Bauern, und zwar der Kleinbauern. Und diese standen den Chinesischen Mauern der Macht bis vor kurzem gleichermaßen ratlos und hoffnungslos gegenüber, ob sie nun in einer von Anfang an ungarischen, einer ganz slowakischen oder einer in der nationalen Verschmelzung begriffenen Siedlung lebten. Wir müssen uns in dieser Frage auf Folgendes einigen: Es geht hier um das Schicksal einer rückständigen, sich langsam entwickelnden Klasse inmitten gleichmäßig furchtbaren Kriegselends. Was diese Klasse in eine lebende Peitsche verwandelt und zu einem strafenden Hieb erhebt, ist nicht nur aus frischem Leid geboren, sondern auch aus der betäubenden Wut von Jahrhunderten: Der ewige Leibeigene hat nur auf die Gelegenheit gewartet. Und das war überall der Fall. Daher betraf die slowakische Volkserhebung eigentlich nicht das ungarische Volk oder die ungarische Nation, sondern eher nur die schraubenartigen ländlichen Vertreter eines Staatsapparats. Wir wollen sie nicht verteidigen, sie sind bereits bestraft worden. Das restliche Schuldgefühl, das dieser Roman für das heutige ungarische Bewusstsein bereithält, müssen wir alle als Lehre akzeptieren. Die neue ungarische Entwicklung möchte sich an diese Lehre mit der größten Reinheit der Verbesserungsabsicht erinnern, aber auch alle Völker im Donautal und unter den Karpaten an sie erinnern. Unser Leben, das Leben dieser Völker, ist kein isoliertes Leben, sondern eine historische Einheit. Heute glauben wir, je freier die ethnisch, kulturell und wirtschaftlich bunte Daseinsform des Donautals wird, desto größer wird hier die Berufung der Ungarn: nämlich zur Rolle des Mittlers zwischen den mit ihm verflochtenen Völkern. […]
Der beste Beweis für Urbans schriftstellerische Moral und Menschlichkeit ist gerade, dass er im Roman die sozialen und wirtschaftlichen Beleidigungen und Benachteiligungen hervorhebt. Genau das verleiht seinem Werk Authentizität. Gewiss stehen im Buch Ungarn oder Schein-Ungarn an der Spitze dieser Beleidigungen und handeln wie die Finger derselben Hand. Selbst in der Garnison und auch an der Front ist der jeweilige Unteroffizier, der den slowakischen Soldatenjungen misshandelt, ein Ungar oder hat zumindest einen ungarischen Namen. All das gehört gewissermaßen zu einer bedauerlich übertriebenen und naiven Darstellung der Ungarn, deren psychologische Ursachen in der jungen slowakischen Bevölkerung leicht erkennbar sind. Aber diese beleidigenden Figuren dürften gar nicht mit dem Ungartum im ethnisch-nationalen Sinn identifiziert werden, wie es oft der Fall ist. Die junge Generation der Slowaken muss diese Einstellung, die heute weder Vertreter noch Verteidiger unter den Ungarn hat, aus ihrem Ungarn-Bild entfernen. Das alte System, dessen Zerrbild in Milo Urbans Roman im Hinblick auf die slowakischen Verhältnisse vermittelt wird, sündigte auch gegen die Ungarn, und nach dem Urteil der heutigen Generation ist dieses Verbrechen viel größer als das andere. Denn dieses System stand den breiten Schichten der Ungarn, den Bauern der Großen Ungarischen Tiefebene und der gemischten Bevölkerung Transdanubiens ohne Grund gegenüber und ließ zu, dass die Siebenbürger verfielen und ihres Landes beraubt wurden. Aus dieser Sünde müssen alle im Donautal lernen. Es ist nicht nur ein Tadel, sondern auch eine Warnung, wenn wir klar aussagen, was passiert ist. Für den Anschein einer sprachlichen Assimilierung, für dieses nationalistische Trugbild opferte das alte Land die größten internen Möglichkeiten seiner ethnisch-nationalen Politik: die Entstehung und die Gestaltung der ungarischen Gesellschaft. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn ein Volk nach ethnischer Eroberung strebt, anstatt eine Nation aufzubauen. Und das zu einer Zeit, in der eine solche Eroberung für die Welt bereits als Verbrechen gilt. Das ist also ein warnendes Beispiel für alle, auch für die neuen Slowaken.
Milo Urbans Roman macht es daher wieder einmal aktuell, nach der bloßen äußeren Erscheinungsform des slowakisch-ungarischen Problems auch über seine große innere Botschaft nachzudenken. Wir leben heute in den Tagen des Verständnisses für das historische Schicksal. Bei genauester intellektueller und emotionaler Betrachtung zeigt sich, dass das Schicksal der Slowaken und Ungarn nur als ein Nebeneinander vorstellbar ist. Die gemeinsame Heimat macht uns die historische und ethnische Entwicklung bewusst. Alle Variationen der Landschaft, die Formen der Städte und Dörfer sowie der Grundton jeder Stimmung entschädigen für die Fehler der Vergangenheit. Sie warnen uns vor Abenteurern und motivieren uns zur Kooperation. Dieses Land ist nie den Losungen gefolgt, sondern es hat sich nur aus Überzeugung verändert, wenn es eben einen Grund zur Veränderung hatte. Die slowakisch-ungarische Gemeinschaft ist seit langem über jede Politik hinaus eine ernsthafte Erfahrung für alle hiesigen Menschen, die eine gesunde Seele haben und verständnisvoll sind. Die heutige schöpferische Generation der Ungarn fühlt sich von der alten Politik befreit und möchte aufgrund ihrer Lebensideale ausschließlich für die Gemeinschaft arbeiten.
Milo Urbans Roman eröffnet aber Perspektiven auch für die inneren Fragen der Slowaken. Er stellt neben den Schicksalsfragen auch die Gedanken und Wege der nationalen Herausbildung eines kleinen ackerbautreibenden Volks zwischen den Bergen dar. Die Slowaken sind weiter westlich gelangt als die anderen Slawen: in den Westen des lateinischen Europas und des römischen Christentums. Zu den neuen Bedingungen ihrer nationalen Herausbildung und emotionalen Beruhigung kommt der tausendjährige Rahmen ihrer Heimat hinzu, der nun gerade von ihnen stärker ausgefüllt werden muss. Zur Stärke dieses Volks tragen – wie auch Urbans Roman beweist – auch die christliche Moral ohne Schwärmerei und die natürliche Neigung zur europäischen Kultur bei. Diese beiden Faktoren werden die Slowaken voranbringen. Die anregende Lektüre Der lebenden Peitsche führt unsere Gedanken bis zu diesem Punkt.
Deutsch von Orsolya Rauzs
Szalatnai Rezső: Szlovák vallomás a magyar múltról. (Milo Urban regénye: Az élő ostor). In: Századunk 1939/1, 12–15.