Zo svetovej vojny (Aus dem Weltkrieg)
- Autor*in: Ján Hrušovský
- Publikationsdaten: Ort: Turčiansky Svätý Martin | Jahr: 1919
- Entstehungsjahr: 1914
- Sprachen: Deutsch
- Originalsprachen: Slowakisch
Kommentar:
Ján Hrušovský (1892–1975) begann seine schriftstellerische Laufbahn als
Journalist. Nach 1918 schrieb er Erzählungen, in denen die slowakische Forschung neben
der realistischen Motiven und Ausdrucksmitteln auch solche des (Spät-) Expressionismus zu
erkennen glaubt. Hierher gehören Erwartungen nahen Todes beziehungsweise dessen
vernichtende Folgen, aber auch triebhafte Regungen im Inneren der Protagonistinnen, die
sowohl deren eigenen als auch den „kosmischen Regress“, aber gleichfalls Niedergang und
Neugeburt symbolisch-politischer Kollektivkörper, hier der Habsburgermonarchie
beziehungsweise der Tschechoslowakei besiegeln, wie im Roman Peter Pavol na prahu nového
sveta (Peter Paul an der Schwelle zu einer neuen Welt, 1930).(1)
Bereits in seinen frühen Erzählungen sowie in der grundlegenden Novelle Muž s protézou
(Der Mann mit der Prothese, 1925) verarbeitete Hrušovský „die Fronterlebnisse im Ersten
Weltkrieg“, nachdem er ihnen im Buch Zo svetovej vojny (Aus dem Weltkrieg, 1919)
zunächst „die Form dokumentarischer, nahezu tagebuchartiger Aufzeichnungen“ gegeben
hatte. (2) 1913 wurde Hrušovský als „Einjährig-Freiwilliger“ nach Salzburg einberufen, wo ihn
der „Ausbruch des Ersten Weltkriegs überraschte“.(3) Das Buch beschreibt den Übergang des
Protagonisten von der österreichisch-bayerischen Grenze an die „Nordfront“ in Galizien im
Sommer und Herbst 1914 durch die Optik eines slowakischen Offiziers, der trotz seiner
Intellektualität den Kontakt mit der – in diesem Fall slawischen – „Scholle“ nicht verliert,
wodurch er den Überlebenskampf bestehen will. Der Text setzt sich aus bereits publizierten
Zeitschriftenbeiträgen, die durch Erinnerungen aus dem Rückblick aktualisiert werden
(Hrušovský führte damals kein richtiges Tagebuch), zusammen. Die Erinnerungen
beanspruchen zwar Authentizität, freilich werden „Gedächtnislücken“ zum Teil bewusst
eingesetzt, etwa wo es darum geht, Details einer „Strafexpedition“ in Galizien zu
verschweigen. (4)
Die vom sozialistischen Realismus geprägte Literaturgeschichtsschreibung nach dem Zweiten
Weltkrieg kritisierte die „mangelnde weltanschauliche Verankerung“ von Hrušovský Text,
was sich nicht zuletzt durch Auslassungen von Reflexionen über „das Judentum und
Christentum, über die Liebe zum ‚Eigenen‘ und den Hass gegen die Fremden oder die
Menschheitsideale“ (5)
, in der Neuauflage des Buches Anfang der 1970er Jahre manifestierte
(in der vorliegenden Übersetzung sind sie erhalten). Gerade „Irrationalismen“ wie die
positive Betonung der Kameradschaft unter Frontsoldaten unabhängig von ihrer jeweiligen
„nationalen“ Zugehörigkeit oder Lobpreisungen von der „Rauschhaftigkeit“ des
Kriegsalltags, aber auch die „männerbündlerische“ Perspektive des Erzählers machen den
Text nach wie vor authentisch.
1 Dagmar Kročanová: Vojnový veterán ako vizionár: K poetike a metafyzike v diele J. Hrušovského [Der
Kriegsveterane als Visionär: Zur Poetik und Metaphysik im Werk J. Hrušovskýs]. In: Slovenská literatúra
[Slowakische Literatur], Jg. 60 (2013), Nr. 2, S. 105–114. Vgl. auch Sabine Witt: Nationalistische Intellektuelle
in der Slowakei 1918–1945. Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung. Berlin u. a. 2015, S.
338–341. 2 Stanislav Šmatlák, Vladimír Petrík, Ludwig Richter: Geschichte der slowakischen Literatur und ihrer
Rezeption im deutschen Sprachraum. Bratislava 2003, S. 138.
3 Ebenda.
4 Jelena Paštéková: Plusquamperfektum. In: Slovenská literatúra [Slowakische Literatur], Jg. 54 (2007), Nr. 6, S.
429–442, hier S. 434.
5 Ebenda, S. 435.
Übersetzung
Aus dem Slowakischen übersetzt von Dr. Ines Koeltzsch.
Kursiv gesetzte Wörter und Stellen Deutsch (oder andere Sprachen) im Original.
Übrigens ist Ostrów ein armseliges, bedeutungsloses Dörfchen. Wichtigkeit erlangte es nur
durch uns und den Feldwebel Buchner.
Ostrów ist eine saftige Oase im Sandmeer meiner Erinnerungen.
Schon der Einzug mutete irgendwie feierlich an. Die Musik spielt den Prinz-Eugen-Marsch,
auf den Wiesen schnattern Gänse, auf den Misthaufen krähen Hähne und der Oberleutner6
wird von einer Wespe im Gesicht gestochen. Ein wunderschönes, unvergessliches Bild!
Die Landler sind heute außerordentlich begeistert und insbesondere unsere Kompanie, die
Elite unseres Regiments. Den ganzen Weg singt sie und macht Scherze. Ein Lied habe ich mir
aufgezeichnet:
„Stiarwascha“ hoassen’s seit alta Zeit
Von unserem schenen Land die Leit.
Es is a Gspoass, ma lacht dazua –
I glab, der Gspoass kimmt bald zur Ruah.
Da Feind ruckt an, wohin D’ nua schaust,
Ziagt auf a Wödda, dass’ s oan graust.
Der Russ, der Ratz, und der Franzos
Und woas der Teifi Alls bricht los.
Zwoa stengen griabi, fest und stumm
Und richt’n d’ Eis’n aufn Feind rundum.
Das Deutsche Reich, das Österreich,
Zwoa Brüda, denen koani gleich. –
Und bald, hurra, geht’s übrall los.
Gott gnad’ enk Russ diar, diar Franzos!
Und vorndran, in den ersten Reihn
Da werden gwiss die Rainer sein:
Denn miar sein miar, sen wia die Stiar.
Im Raffen kimmt uns koana viar.
Da gibt’s an andri Wascherei;
Der Bär weard gwaschen, jujuhei! –
Und hat der schwari Krieg a-n End.
Und kimmt dann zrugg das Regament.
Weard Enk da Kaisa lobn und sagn:
Weck mit dem Nam, den’s lang habt’s tragn,
Stierwascha is vagessn, vabannt,
Die „Bärenwascha“ seid’s hiezt gnannt.
Hurrah!
Dieses „Hurrah“ wird ganze zwei Minuten über geschrien, die Gesichter glühen und die
Augen funkeln, die Füße stampfen, das Herz schlägt wie ein schwerer Hammer in der
Schmiede – und wir jagen Schrecken, Schrecken ein…
Unsere Kompanie kam nach Ostrów, andere in die Nachbardörfer. Auch lauter -óws. Der Stab
und die Kommandantur sind im Herrenschloss untergebracht, etwa eine halbe Stunde von
Ostrów entfernt. Die Hälfte unseres Schwarms wurde in die Scheune eingepfercht, ganz am
Rande des Dorfes, auch ich sollte dorthin gelangen. Die Scheune war winzig klein,
unbequem, und in mir erwachte das Bewusstsein meiner Würde eines
„Schwarmkommandantstellvertreters“. Ich ging also auf eigene Faust Unterkunft suchen.
Unweit, etwa 20 Schritte entfernt stand ein niedriges, schäbiges Häuschen, zu dem auch die
Scheune gehörte. Das war entsprechend.
Im Vorzimmer war niemand. In einer Ecke ein Haufen halb verfaulter Kartoffeln, in der
anderen ein halber Dutzend Kohlköpfe, leere Säcke und etwas Feldgerät, dessen slowakischen
Namen ich nicht einmal kenne. Rechts eine niedrige Tür zur Stube. Drinnen eine tiefe Stille.
Ein paar gesellschaftliche Gepflogenheiten sind mir noch übriggeblieben und so klopfe ich.
Keine Antwort. Ich klopfe wieder. Nichts. Man hört nur eintöniges Tick-Tack einer Uhr. Ich
öffne. Zehn große, erschrockene Augen starren mich an. Vier schwache, dünne Kinder
schmiegen sich ängstlich an ein junges, vielleicht achtzehnjähriges Mädchen wie Küken an die
Glucke heran. Ein Bild vollkommener Ratlosigkeit und Verlassenheit, ausreichend, auch den
rohesten Mann zu bewegen.
„Dóbro jutro!“ (7), grüße ich möglichst freundlich. (Ich bringe Slowakisch, Polnisch,
Ukrainisch und Tschechisch durcheinander, wobei ich diesem Mischmasch einen lokalen
Akzent zu verleihen versuche.) „Würde sich hier Platz für mich finden?“
Allein die Tatsache, dass ich slawisch sprach, beruhigte sie – meine Erscheinung ist
schließlich alles andere als furchterregend.
Ich sehe, dass ich sie in Verlegenheit bringe, und ich verstehe sie.
„Ich meine nicht hier in der Stube – vielleicht im Flur.“
„Wo?“ fragt sie erstaunt.
„Im Flur, im F-l-u-r.“
Sie schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich verstehe nicht.“
„Also in der Diele, im Vorzimmer, im Vestibül“, erkläre ich eifrig und zeige mit dem Daumen
auf die Tür.
„Ich verstehe, mein Herr, ich verstehe. Dóbro.“ (8)
Sie stand auf, streichelte den Kopf des Kleinsten und wies mir endgültig den Platz zwischen
Kartoffeln und Kohl. Dann kamen wir ins freundliche Gespräch. Zu meinem größten Staunen
erfahre ich, dass dieses winzige achtzehnjährige Mädchen in Wirklichkeit eine
fünfundzwanzigjährige Frau und Mutter von vier Kindlein ist. Der chłop (9) sei in Lemberg bei
den Sappeuren, er repariere Brücken, während sie alleine zu Hause wirtschaften müsse.
„Und wann wird der Krieg vorbei sein?“, fragt sie vertrauensvoll.
„Ganz gewiss in zwei Monaten“, antworte ich im Ton der tiefsten Überzeugung. Wir alle
waren davon überzeugt.
Die Landler liegen auf dem Rasen vor der Scheune herum und lassen sich von der Sonne
schwarz braten. Weiter im Hintergrund windet sich ein stiller, dunkelblauer Fluss durch die
Wiesen, auf den Weiden tummeln sich Pferde und Fohlen herum.
Die chochołka (10) setzt sich auf die Mauer vor dem Haus und die Kindlein schwärmen ihr
hinterher aus. Ich bemerke, dass sie auffällig blass sind und unnatürlich große Bäuche haben.
Sie reicht mir ein Töpfchen süße Milch, nimmt aber kein Geld dafür an.
„Hallo! Ist hier der Einjährig-Freiwillige Hrušovský?“ schreit jemand hinter der Scheune.
„Hier bin ich! Wer sucht mich?“
„Sofort sich beim Leutnant melden!“
„Na servus!“, denke ich mir beunruhigt. Wie beim Heer bekannt, wenn ein Vorgesetzter
einen Untergesetzten zu sich befördert, kann dieser nur in Ausnahmefällen etwas Gutes
erwarten. Habe ich doch Recht? Es gibt Menschen und Soldaten, wie es den Hrušovský und
den Einjährig-Freiwilligen Hrušovský gibt. Genauso gibt es ein privates und ärarisches
Gewissen. Erstes ist seit Urzeiten unabhängig und rührt von Gottes Gnade her – und letztes?
Wenn ich es mit einem schmerzenden Hühnerauge vergleiche, liege ich wohl recht. Ach,
ärarisches Gewissen! Es reicht die Vorstellung vom entsetzlichen Gefühl, wenn jemandem
ins Ohr gebrüllt wird: „Sich beim Leutnant melden!“ Man sagt, dass tödlich Verletzten ihr
ganzes Leben in grellen Tönen vor innerem Auge defiliert. So ist es auch in meinem Fall.
„Wissen Sie nicht, warum?“, frage ich den Ordonnanz.
„Ich weiß nicht.“
Herr Leutnant steht vor dem „Kompaniekommando“ und raucht. Als er mich erblickt, brüllt
er folgendermaßen:
„Einjährig-Freiwilliger, stimmt es, dass Sie ein Slowake sind?“
„Jawohl, Herr Leutnant!“
„Also stimmt es?“
„Jaw…“
„Auch dass Sie Tschechisch sprechen?“
„Jaw…“
„Auch dass Sie Polnisch verstehen?“
„Jaw…“
„Noch in dieser Minute melden Sie sich bei Buchner als Dolmetscher für die Bäcker! Abtr…“
„Jawollherrrauptman!“
Die Sonne scheint heller, der Himmel nimmt einen dunklen Ultramarinton an, die Bäume
beginnen zu lachen und die Hütten zu tanzen.
Buchner finde ich beim „Bürgermeister“. Er schwitzt vor Anstrengung. Der Bürgermeister
versteht kein Deutsch, Buchner kein Ukrainisch, also schwitzt er. Er hilft sich mit Händen,
Füßen, und dennoch kommt er nicht ans Ziel. Um sie herum etwa zwanzig Landler, sie
rauchen Porzellanpfeifen und hören ernsthaft zu.
„Herr Zugsführer, melde mich gehorsamst als Dolmetsch“, melde ich mich bei Buchner.
„Was? Dolmetscher?“, schreit er vor Freude und er wäre mir auch um den Hals gefallen,
wenn es ihm sein Unteroffiziersrang erlaubt hätte. Also atmete er bloß tief aus, zog aus der
Hose ein rotkariertes, ärarisches Taschentuch heraus und trocknete sein rotes, mit reichlich
Schweiß bedecktes Gesicht ab. An Buchner ist alles rot: Haare, Augenbrauen, die großen,
kurzsichtigen Augen und der dicke Spitzbart, der schon von weitem Feuer sprüht. Buchner
traf ich während des gesamten Kriegs noch mehrmals an allen möglichen Fronten. Das letzte
Mal im Jänner 1918, als er von einer Mine verletzt wurde.
Buchner erklärt mir, dass er mindestens sieben Öfen brauche. Nach langem Suchen, Streiten
und Zureden haben wir tatsächlich alle sieben bekommen – große, bauchige Öfen, die fast in
jedem ukrainischen Bauernhaus besichtigt werden können. Buchner notiert die Nummern der
Bauernhäuser in sein Notizbuch und beginnt energisch zu organisieren. Jedem Ofen werden
drei Bäcker zugeteilt, die nötigen Requisiten und Brennholz. Er bestimmt den Wachdienst,
befiehlt die Öfen zu heizen und schließt wie folgt ab:
„ … und ich werde es überwachen. Ich und mein Stab sind beim Bürgermeister einquartiert.
Verstanden?“
Unter dem Stab verstand er sich selbst, mich, einen großen Rohrstock und Tabaksackerl.
Die Arbeit kann losgehen.
Das ganze Ostrów ist in eine graue, dicke und stechende Rauchwolke verhüllt. Der
„Regimentshornist“ kommt angeritten, ob es Brand gebe?
„Nein!“ antwortet Buchner stolz. „Wir backen Brot, schönes, weißes Brot.“
Ich fühle mich wie ausgewechselt. Ich stecke in einer ganz neuen Haut. Bitte: ein
Dolmetscher, der kaiserliche und königliche Dolmetscher der Bäckerabteilung, kein
Schwarmkommandantstellvertreter mehr oder, wie der Einjährig-Freiwillige Schmidt zu
sagen pflegt: Schmarrnkalodontesserfresser. Ich gehe auf dem „Hauptplatz“ spazieren, ich
grüße wohlwollend links und rechts und ab und zu schaue ich auch in Richtung Ofen, ob die
Arbeit korrekt vorankommt. Und wenn ein Bäcker sich keine Mühe gibt, ziehe ich die
Augenbrauen zusammen und huste reserviert.
Während eines solchen „Rundgangs“ treffe ich Mišo. Er greift meinen Knopf an.
„Kleiner Slowake, was tust du?“, fragt er vertrauensvoll und zwinkert mit den Äugelein. Ich
weiß, woran er, der Spaßvogel, denkt.
„Im Dienst.“
„?“
„Ja-a, im Dienst. Ich bin nämlich beim Stab, und wer beim Stab ist, hat immer Dienst. Und
schließlich: Im Dienste bin ich ein Vieh und ich bin immer im Dienste…“
Mišo geht trübselig weg.
Der Hauptplatz füllt sich mit Landlern. Sie stellen sich in eine Reihe an, aber bloß so „komót“ (11), ohne Bajonett.
„Was ist?“, frage ich die Tagescharge.
„Tagesbefehl und Post.“
Gleich danach kommt unser Leutnant und hält eine kurze, aber prägnante Ansprache. Er
erinnert an den Ernst der Zeit und die Bedeutung der eisernen Disziplin.
Danach tritt der spitzbärtige Stabsunteroffizier Schranz mit einem Berg an Post vor die
Rampen. Ich wundere mich, dass der Stabsfeldwebel Rosenkranz nicht in Sicht ist.
„Hoffentlich ist er nicht krank geworden?“ frage ich den nächsten Landler.
„Na… das nicht. Er ließ sich nur ans Telefon abkommandieren, der gute Mann“ bemerkt der
Landler und spuckt verächtlich. Der Stabsfeldwebel ist bei der Kompanie nicht beliebt.
„Hubermayer! Hohl! Kruglhuber! Berndorfer! …“, schreit Schranz und schmeißt die Briefe
herum. Allein Hrušovský bekommt gar nichts. Ich beschließe, noch heute eine Karte von der
Nordfront zu schreiben.
„Die Nordfront! Die Front!“, wiederhole ich für mich. Heute backe ich zwar noch Brot, aber
bald – vielleicht schon morgen – werde ich die Mannlicher behandeln. Und überhaupt: die
Front. Was für ein kurzes, bedeutungsschweres Wort! Bisher kannte ich es nur aus Büchern
und vom Erzählen des alten Horčík aus Trnovo. Das Chaos. Das Quietschen der Schüsse, der
Qualm des Schießpulvers, das Wiehern der Kampfpferde, das Stöhnen der Sterbenden, die
zerschossenen Lafetten der Haubitzen, das Geglitzer der Bajonette usw. Wir alle haben uns
den Krieg so vorgestellt. Und jetzt sollte ich mit diesen, diesen (12) eigenen Augen sehen, ich
selbst werde Teilnehmer dieses grandiosen Abschnitts der Weltgeschichte. Dem Begriff der
rohen Gewalt widersetzt sich zwar mein gesunder Verstand, aber neben diesem gibt es in mir
noch etwas anderes, etwas Vererbtes, Übernommenes, Fremdes, was mit klarem Verstehen
nichts zu tun hat. Es ist unabwendbar da. Es ist berauschendes, süßes Gift, Es ist entsetzliche
Ungerechtigkeit… Es ist die Erbsünde, aber ich liebe meine Erbsünde, und indem ich sie
liebe, bin ein hundertfacher Sünder. Aber auch diese Selbsterkenntnis wird mich nicht
erlösen. Ja, ja, so ist es. Und dann das Bedürfnis nach leidenschaftlichen Worten,
leidenschaftlichen Taten, nach Verwirklichung der verrücktesten Träume… sich in eine
einzige göttliche Pose, in die uralte Fanfare hineingießen, sich vom Geräusch des Eisens
besaufen und vom Schlachtgetöse ganz betäuben lassen… ohne Rücksicht auf die innere
Überzeugung, sich bloß von diesem Wahn sättigen, untergehen, im Sturm völlig untergehen.
Und mag es sich auch in komischer Dissonanz verklemmen – egal.
Meine Schwester sang einmal Schumanns Lieder, auch Heines Die beiden Grenadiere. Die
Akkorde sind längst verschollen, mir aber klingt immer noch in den Ohren:
„Was schert mich Weib, was schert mich Kind,
ich trage weit besseres Verlangen,
lass sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind,
mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!“
Und die Reaktion tut so unbarmherzig weh. Alles hat seine Reaktion. Dem Tag folgt die
Nacht.
Ergo, ich schreibe einen Brief von der Nordfront, einen aufrichtigen, gutwilligen Brief. Dass
wir in Ostrów sind, dass das Trinkwasser kaum trinkbar ist und dass meine Fußsocken reißen.
Meine Offenheit stieß auf kein mitleidendes Herz, denn gleich am nächsten Tag ließ mich
unser Rechnungsoffizier rufen, um mir einen klafterlangen Vortrag über Militärgeheimnisse
zu halten.
Es wird Abend.
Ich gehe zum Bürgermeister ins Hauptquartier. Der Stab ist komplett. Sogar Buchner hilft
backen. Er zog seine Weste aus, krempelte die Ärmel hoch und wendet sich fleißig dem Ofen
- Wenn ich nicht irre, ist Buchner auch im Zivilleben Bäcker, irgendwo in Riedenburg bei
Salzburg. Eine herkulesartige Gestalt. Muskeln wie aus Stahl, lauter harte, helle Beulen.
Der Bürgermeister invitiert uns zum Kartoffelessen mit Buttermilch. Bei dieser Gelegenheit
habe ich mitbekommen, warum die hiesigen Kindlein mit solchen kolossalen Bäuchen
verunstaltet sind. Von „einseitiger“ Ernährung. Dem Volk geht es dermaßen elend, dass es am
System der einseitigen Ernährung festhält. Das hier sind Kartoffeln. Zum Frühstück:
Kartoffelbrei mit Kartoffeln; zu Mittag: gekochte Kartoffeln mit Kartoffelbrei; und als
Abendbrot: Wenn Gott beschert, Kartoffeln. Ich habe mich ins Gemüt des achtjährigen
chochoł hineinversetzt und mir folgende Fragen gestellt:
Wozu bin ich auf der Welt? Um mich von Kartoffeln satt zu essen.
Was braucht man zum Leben? Kartoffeln, Kartoffeln und Kartoffeln.
Was erwartet dich im Jenseits? Kartoffeln.
Hast du keine anderen Wünsche. Erstmal nicht.
Wer ist verrückt? Derjenige, der von Fleisch träumt.
Ich denke an die schöne, reiche Kultur. An die Ergüsse der Genies, Übermenschen, Aposteln,
an grandiose, epochale Taten, an unsterbliche Werke der Staatsmänner, Gelehrten, Dichter
und Menschenfreunde – an unsere ganze, stolze Neuzeit. Nur eins kann ich ihr nicht
vergeben: dass sie von diesen kleinen und großen Bettlern nichts weiß, und wenn sie von
ihnen weiß: dass sie sich um sie nicht kümmert, und falls sie sich doch kümmert: dass sie so
schwach ist und nicht strafen kann.
Ist also derjenige verrückt, der von Fleisch träumt? Oder soll die Frage mit einem
Ausrufezeichen enden?
Der Bürgermeister will vom Groschen nichts hören. Jeder gibt ihm ein Sackerl Tabak und er
kann seinen Dank kaum in Worte fassen.
„Wisst ihr was? Wir werden jetzt wie Räuber ein Lagerfeuer entfachen“, meint Buchner und
zündet sich mit Genuss seine Porzellanpfeife an.
„All right!“
Wir befehlen Holz und Reisig zu sammeln und suchen uns hinter der Scheune einen
trockenen Platz, wo wir eventuell auch übernachten können. Ein Lagerfeuer auf dem
Ostrówer Feld. Wir liegen bequem um das Feuer und es besprüht uns mit blutrotem Licht.
Und wenn die Flammen stark flackern, erscheinen auch die Scheune und das Maisfeld im
roten Glanz. Im Dorf erklingen eintönige, gezogene Lieder der kampflustigen Landler,
irgendwo in der Finsternis beginnt die Okarina zu weinen, das trockene Laub zu rauschen, die
Grille zu zirpen… Unweit in der Dunkelheit ertönt ein lautes Lachen – helles Lachen einer
Frau…Dann ist es still. Ich fühle den Atem der Nacht. Sie schläft.
⁎⁎⁎
Und es ward Abend, und es ward Morgen: der zweite Tag.
Ich laufe folgendem Blick nach:
Die ganze Kompanie ist auf den Beinen und übt am Fluss, in ähnlichem Tempo wie auf dem
Bregenzer Übungsplatz. Durch die frische Morgenluft schallen Befehle und Schimpfwörter –
am mutigsten indes schreit Herr Leutnant Kubahias, der heldenhafte Kommandant der
Maschinengewehrabteilung. Die Erde dröhnt unter den Hufen seines Wallachs, der Schlamm
spritzt nach allen Seiten und verbreitet Schrecken unter den armseligen Kompanien; aus dem
Mund des Leutnants sprudelt eine Fanfare von den kampflustigsten Sonderausdrücken
hervor, und damit der Effekt vollkommen werden kann, zieht Herr Leutnant sein Schwert.
Dann greift er an. Er schwingt das Schwert über seinem Heldenkopf und führt den Angriff…
bis zum letzten Bluttropfen. Leider konnte ich dieses erhebende „Gefechtsmoment“ nicht
weiter beobachten, da eine Kompanie zwischen mich und den blutrünstigen Offizier
einmarschierte und unbeweglich wie Festungsmauern stehen bleibt. In den mittleren Regien
dieser Festungsmauer bemerke ich jemand mit kleinen grauen Äugelein, es ist Mišo.
Ich möchte den armen Teufel etwas ärgern. Ich strecke mich noch bequemer auf dem Rasen,
gähne zwei-, dreimal, damit auch er es hört, und dann zünde ich mir mit einer faulen
Bewegung die papiros (13) beziehungsweise drama (14) an.
„A-a-ach!“, stöhne ich laut und atme große drama-helle Rauchwolken in die Luft aus. Groß
genug, um Mišo verspotten zu können.
Vor der Menage bekomme ich Befehl, hundert Flaschen Wein zu kaufen, und zwar in
Podhajczyki. „Der Bürgermeister hat einen Karren zu besorgen“, lautet der strenge Befehl.
Buchner bittet mich, auch für den Stab wenigstens zwei Flaschen zu kaufen, und ich habe die
Absicht, mich selbst ebenfalls nicht zu vergessen.
Der Bürgermeister lamentiert.
„Wo nehme ich Pferde her? Ich habe keine. Die Herrschaften vom Schloss sollen welche
geben – solche Reiche haben genug Pferde. Immer nur die Bauern, ach, pšia krev (15)…“
Ich konnte ihm nicht helfen. Um zwölf wartete der Karren bereits auf mich. Zunächst fuhren
wir auf der Feldstraße nach Romanówka. In Romanówka ist unsere dritte Kompanie
untergebracht, und wie ich sehe, viel bequemer als wir in Ostrów. Romanówka ist zwar nicht
viel größer, dafür aber unverhältnismäßig wohlhabender.
Etwa in der Mitte des Dorfes höre ich plötzlich meinen Namen.
„ … sus Maria, Hrušovský, Hrušovský! Chlape nevěrnej, kampak?“ (16)
„Oh, rytíři přeslavenej!“ (17) heiße ich Velecký willkommen, der sich begeistert auf den Karren
aufschwang und sich zu mir hinsetzte.
„Ich gehe Wein holen.“
„Wo?“
„In Podhajczyki.“
„Ich komme mit.“
Und er kam mit. In einer Stunde sind wir schon beim Juden in Podhajczyki und verhandeln
um Wein. Dieser ist relativ billig, eine Sieben-Dezi-Flasche um zwei Kronen. Ich kaufe für
Buchner zwei und für mich selbst auch zwei Flaschen – Velecký versorgt sich gleichfalls.
Podhajczyki liegt an der Lemberger Bahn, und als wir auf den Karren stiegen, sauste gerade
ein Militärtransport irgendwo ostwärts an uns vorbei.
Wir blicken lange der verschwinden Erscheinung nach und als die scharfe Kurve sie
verschlingt – werden wir traurig. Als wäre die ganze Landschaft um einen Ton ernster
geworden, als wären die Felder verstummt und die Nachtigall hätte irgendwie schmerzlich
gezwitschert. Ist es nicht einer der letzten Grüße der Heimat? Was wir dann zu sehen
bekommen, wird sinnlos und grausam sein.
⁎⁎⁎
Und ein großes Gelage fand statt. Kartoffeln, Weißbrot, Wein, Buttermilch und Maiskolben.
Sepps Ziehharmonika quietschte, sodass ihre Lederwände zu platzen drohten. Mišo spielte
drmľačka. (18)
Ich verlasse das Gelage und gehe im Dorf spazieren.
Hätte ich zu jener Zeit den Golem gekannt, hätte ich gesagt, es sei Rosina gewesen. Rosina
mit einem großen Kopf und steifen Gesicht. Auch Wassertrum schaute aus dem Fenster,
grauhaarig, und mit einer kleinen, fettigen, schwarzen Kappe auf dem Kopf.
Rosina verkauft Schnaps, alte Schokolade und verschimmelte Bonbons – und gegen Abend
auf dem Maisfeld hinter dem Garten auch sich selbst.
Vor dem Bauernhaus ein Haufen betrunkener, nicht betrunkener und sich zu betrinken
bereiter Landler. Das G’scheft läuft gut, Wassertrum strahlt und Rosina schielt über die Köpfe
der Landler hinweg auf die Straße, ob Offiziere ihren Rundungen und der Freigiebigkeit
Beachtung schenken. Und sollten Offiziere mit Blindheit geschlagen sein – wird auch ein
Landler gut.
Habe ich Recht, Rosina?
Ostrów, ein kleines, schwaches Dorf, beinahe Einöde, Meierei, hat drei Kneipen, wenn mir
keine entgangen ist. Drei Kneipen: drei Juden, drei Wassertrums mit nur einer Liebe und
einem Hass.
Ich beginne sie alle zu verstehen.
Im Allgemeinen könnte ich sagen: Liebe zum eigenen Stamm und Hass auf Fremde. Der
Schlüssel zum Judentum und eiserne Logik der Weltgeschichte; ein Beweis für die
Rücksichtslosigkeit des Fortschritts und Verhöhnung der christlichen Grundlehre zu unseren
Ungunsten. Und möglicherweise auch eine gute Lektion für viele Jahrtausende.
Oft frage ich mich: Lebte heute der Nazarener, und hieße er kein Nazarener, sondern
Schlesinger – was würde man einem Volk antun, das ihn kreuzigte oder guillotinierte? Es
auslöschen? Bis auf den Grund zerstören? In alle Ecken des Globus zerstreuen? Aus der Mitte
anderer edelmütiger Völker vertreiben?
Das Leben fließt in einem gewaltigen Strom, nichts bleibt stehen – alles verändert sich.
Auch unsere Ideale. Gestern waren sie religiös, heute sind sie national und morgen werden sie
sozial sein usw. Und was uns heute selbstverständlich erscheint, darüber werden wir morgen
den Kopf schütteln und dabei vergessen, dass die Ideale uns tagtäglich zu schweren
Verbrechen verleiten.
Gestern haben wir uns für den Gott geschlagen.
Heute schlagen wir uns für das Volk.
Morgen – für die Internationalität.
Und wenn die Ideale schließlich aussterben und der große, unvermeidliche Vorabend der
Menschheit anbricht, werden wir fragen: Warum? Wozu das Ganze? War es der Mühe wert?
Nein!
Die gleiche Antwort hörte Pascal am Rande des schwarzen Abgrunds.
Das ganze Volk litt, damit unser Christentum siegreich voranschreiten konnte. Falsch. Das
Judentum war bloß Zielscheibe für unsere Rachsucht, und zwar dann, als wir bereits stark
waren und nichts zu befürchten hatten. Und warum all das? War das ganze Volk schuldig?
Musste das ganze Volk für die Schlechtigkeit der Führer und Häupter Strafe bestraft werden?
Wer beweist, dass das Volk Mord verübt hatte?
Niemand.
Böses und Gutes tun Einzelne. Diese sind zu bestrafen.
Israel verschwand von der Oberfläche, es sind einzelne Juden übrig geblieben, mit Hass und
Bitterkeit im Herzen überall versprengt. Obwohl unser großer Messias Liebe als heiligste
Erbschaft uns hinterlassen hatte: Wir verhärteten unsere Herzen, seine gebürtigen Brüder
nannten wir Abschaum, Schande der Menschheit, zeigten unseren Hass zu jeder Stunde und
bei jeder Gelegenheit – und mieden sie wie räudige Hunde.
Wo blieb unsere Nächstenliebe? Kein Wunder dann, dass ihr Hass solche tiefen Wurzeln
schlug, die ganze Jahrhunderte nicht herauszureißen vermochten? Konnten wir etwas anderes
erwarten?
Hätten wir seinerzeit das Wesen unserer Glaubenslehre nicht vergessen, gäbe es heute keine
Juden – sie wären von sich aus in uns aufgegangen.
Denn je größer der Druck ist, auf umso stärkeren Widerstand stößt er.
Unsere Heimat ist nicht ihre, weil sie keine Nation sind. Sie wird von ihnen kühl, gefühllos
ausgebeutet – und ihrer Überzeugung nach ganz berechtigt. Diese Schmarotzer sind unsere
Erbsünde.
An der Sache selbst ändert all das nichts. Gefühle sind zügellos und unterliegen keiner Kritik,
geschweige denn einer Analyse. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, ergo klopfe ich
gern den Kaftan aus, wenn ein Wassertrum drin steckt.
⁎⁎⁎
Sonntag.
Am Fluss findet der Gottesdienst statt. Wie ich höre, stieß auch die dritte Kompanie hinzu.
Unser Stab nimmt daran nicht teil, weil die Öfen auch heute im Betrieb sind. Der Magen
kennt keinen Sonntag.
Ich kletterte auf einen Birnbaum hinauf und beobachte von dort den Verlauf des
Gottesdienstes. Das Bild ist ziemlich bizarr und ungewöhnlich und erfordert etwas
Einbildungskraft: Ich befinde mich im finsteren Mittelalter irgendwo auf den Feldern von
Buda. (19) Massen bewaffneten Volkes, Priestergesang, hohles Gemurmel sich Bekreuzender,
am Ufer eines krumm fließenden Flusses im Hintergrund schlanke Hengste usw.
Dummheiten: ich brauche deswegen nicht ins Mittelalter gehen, es bietet auch unsere
Gegenwart große Menge davon.
Ich nahm mir vor, das Schloss zu erkunden. Als ob ich geahnt hätte, dass es sich um eine, für
meine nahe und heldenhafte Zukunft sehr nützliche Sache handelte. Das Schloss bildet in
taktischer Hinsicht ein sehr ernsthaftes Objekt und freut sich allgemeiner Beliebtheit. Seine
Vorteile sind: Keller, Speisekammer, Küche, Möbel, Gemälde, Betten, Bücher,
Wohnkomfort, Räumlichkeit, WC und Obstgarten.
Unterwegs zum Schloss falle ich in die Hände einer heimtückischen Feldwache. Ich gehe
ganz unschuldig auf dem Feldweg und denke an Mohnnudeln, wie ich sie daheim zu essen
pflegte.
„Halt! Wer da?“, schreit mich jemand hinter dem Busch an und sticht das Bajonett hervor.
„Dummkopf“, denke ich und sage: „Ich!“
„Wer ich?“
„Ich!“
„Wer ich?“
„Ich!“
„Wer ich?“
„Ich!“, und will weiter gehen.
„Ha-halt! Dös gibts ja goar net!“, brüllt der Mann hinter dem Busch und steckt den Kopf
heraus. „Wochkommandant!“
Die Dienstvorschrift, Teil I, verbietet es, mit der Wache zu konversieren und ihr zu
widersprechen. Infolgedessen, wenn die Wache der Meinung ist, dass du ein verdächtiges
Individuum bist, musst du im Tiefen deines Herzens überzeugt sein, dass sie die heilige
Wahrheit auf ihrer Seite hat.
Der Busch teilt sich an einer Stelle entzwei und der „Wochkommandant“ tritt in Erscheinung.
Er liegt auf dem Bauch, stützt sich mit beiden Händen den Kopf, es ist Muška.
„Človíčku a kdepak jdeš?“ (20)
„Ins Schloss“, antworte ich. „Und ich verstehe nicht, wie ihr mich am helllichten Tag anhalten
könnt.“
„No jó – tož jdi!“ (21)
„Gute Unterhaltung!“, und ich will weitergehen.
„Hrušovský!“, ruft er mir nachdenklich nach. „Ein Augenblick noch. Hör zu, Mensch, ich
habe eine wunderbare Idee“, und zwinkert bedeutungsvoll mit den Äugelein.
„?“
„Leg dich zu mir hin. Was sagtest du zum Gänseschmaus?“, flüstert er vorsichtig, als von
einer Verschwörung gegen die Regierung Rede wäre, und schaut nach allen Seiten.
„Gänseschmaus?“, flüstere ich. „Ein göttlicher Gedanke, bloß wo nimmt man es her?“
Muška neigt sich zu meinem Ohr und sein Gesicht nimmt einen entschlossenen Ausdruck an.
„Ich weiß es schon, da ich an alles gedacht habe. Beim Schnei-der.“
„Wo?“, wundere ich mich.
„Pssst. Beim Schnei-der.“
„Beim Schnei-der… Ich bin mit dir dabei bis zum letzten Tropfen Blut. Wann?“
„Heute Nachmittag um 3 beim Schneider, geschehe was wolle.“
Ich halte zwei Finger gegen den Himmel.
„Und Kartoffeln?“, flüstere ich.
„Für alles ist gesorgt.“
„Und Fett?“
„Mensch, kümmere dich nicht darum“, meint er mit dem Selbstbewusstsein eines Napoleons.
Ich sehe ihn bewundernd an und beim Abschied werfen wir Kappen in die Luft und schreien
mit lauter Stimme:
„Gänseschmaus, hipp, hipp, hurra!“
„…urra!“, erwidert das Echo.
⁎⁎⁎
Mir passierte das Gleiche wie dem Meister Pernath im Golem: Mir entglitt ein Stück
Vergangenheit aus dem Gedächtnis, bis zu Zimna Woda (Kaltwasser). In den letzten drei
Jahren erlebte ich so viel, dass mein ganzes Hirn von Eindrücken und Erinnerungen überfüllt
ist – und die alten werden von neuen verdrängt.
In Ostrów lagerten wir etwa eine Woche und von dort marschieren wir auf die Kleinstadt
Rudki zu, wo wir zwei Tage Rast machen. Als die Division komplett ist, machen wir uns auf
den Marsch nach Lwów (22), und zwar auf einer erstklassigen Chaussée über Lubienik Wełiky
und Zimna Woda. In Zimna Woda lagern wir zwei Tage, und diese zwei Tage schilderte ich
noch 1914 in Živena (23) – also gleich nach meiner Rückkehr von der Nordfront, unter frischem
Eindruck der Ereignisse. Ich führe es hier unverändert an.
⁎⁎⁎
Wir gehörten zum rechten Armeeflügel, der noch auf heimischem Boden manövrierte,
während der linke schon mit dem Feind auf dem russischen Boden focht. Wir – das heißt die
dritte und vierte Kompanie – schlugen auf dem Feld hinter dem Dorf, am Fuß eines nicht
besonders großen Hügels das Lager auf. Von diesem Hügel lässt sich fast die ganze fruchtbare
Lemberger Tiefebene, die an vielen Stellen von Fichten- und Birkenwäldern bewachsen ist,
überblicken. Eine wunderschöne, poetische Ebene. Als ich am nächsten Tag den kleinen
Hügel hochkletterte und am Horizont die Feuerkugel errötete, sah ich die Ebene von einer
Flut roter Farbtöne überschwemmt, aus ihren stillen Hainen stiegen kleine helle Wolken
empor, an den betauten Sträuchern glitzerten silberne Spinnweben und irgendwo im hohen
Norden erhoben sich stille und geheimnisvolle, lilafarbene und von der heimlichen Poesie
angehauchte Berge aus dem Rosanebel… Und die frische und wohl duftende Luft war von
einer Art Jauchzen durchtränkt… Stille, eine zärtliche Stille herrschte, aber mir schien es, als
ob eine süße, schlafbringende Musik über den gelbgoldenen Feldern schwebte… Daher
widerstrebte es mir beinahe zu glauben, dass in den morgendlichen Sonnenstrahlen kühle,
stählerne Bajonette plötzlich aufglänzten und hinter den entfernten Bergen die Erde von
Kanonengebrüll dröhnte. Warum? Warum?
Vor der Reihe unserer weißen Zelte breitete sich das Maisfeld aus. Der Mais stand dicht und
groß; er hielt den kühlen Nordwind auf, wenn wir uns auf die Erde vor unsere Zelten
hinlegten, die Sonne brannte und wir fühlten uns angenehm und warm.
Ich konnte mich erinnern, dass ich in den Händen des Schankwirts Neues Wiener Tagblatt
sah, als wir vor dem Gasthaus in Zimna Woda marschierten.
Nachrichten! Nachrichten! Wir waren lange Zeit wie von der Welt abgeschnitten.
Ich stand auf und suchte Pohlhammer, den ältesten Unteroffizier unserer Abteilung.
Er lag unweit von mir auf einem Strohbündel und schnarchte. So süß und freundlich
schnarchte er. Ich blieb aber unerbittlich und schüttelte ihn nicht gerade zärtlich an der
Schulter. Er öffnete verständnislos die Augen, zwinkerte kurz und rieb sie sich dann mit
Händen und begann den Mund zum üblichen Schimpfen zu öffnen. Als ich ihm jedoch
ausführlich erklärte, wovon die Rede ist und mit einer bedeutenden Gebärde zu erkennen gab,
dass beim Schankwirt außer der Zeitung auch Bier zu finden wäre, lebte er auf und sah mir
aufgeregt entgegen.
„Bier?“, flüsterte er und ich spürte, wie vor seinen grauen Augen eine verlockende Vision von
breiten, dicken Krügeln mit schäumendem Guggenthaler aufstieg.
„Gut, gehen Sie ins Gasthaus, aber besorgen Sie für die ganze Kompanie ein Bierfass, ja, ein
Bierfass. Bierfass. Bier!“, schloss er mit einem begeisterten Schrei, sprang vom Stroh auf, zog
den nächstliegenden drei Landler an den Füßen, gab weiteren drei einen Klaps auf den
Rücken und weckte mit seinem Schrei die ganze Kompanie.
Sofort war er von einer Wolke gähnender, fauler Landler umzingelt. Und als der Zugführer
Pohlhammer ihnen nahebrachte, dass hier der Kauf eines ganzen, wirklich ganzen Bierfasses
gemeint sei, die guten Männer lebten auf, rissen ihre Augen auf, lächelten vor Freude und
stimmten dem Redner ungewöhnlich bereitwillig zu. Ja, die Kompanie kauft sich ein ganzes
Bierfass.
Nun ging es nur darum, wer das organisiert. Das muss ich näher erläutern.
In Fällen wie diesem, hat jeder, der zufällig mit größeren oder kleineren Geldscheinen
ausgestattet ist, mit Rücksicht auf Kollegialität und Kameradschaftsgefühl die Pflicht, den
Kauf eines entsprechenden Bierfasses zu organisieren. Er selbst hat dann auszuschenken und
es an die Kompanie zu verkaufen. Dass es in kurzer Zeit futsch ist, brauche ich nicht betonen.
Es versteht sich, dass er dabei keinen Gewinn machen darf. Und außerdem hat er nur an seine
Kompanie zu verkaufen. Von einer anderen könnte man auf Knien um ein Tropfen Bier
betteln – es wird nicht verkauft. Nur für uns. Eine Kompanie ist wie eine Familie. Beinahe
rührend. Ein Genosse für alle anderen. Seht, was die Zusammengehörigkeit in schweren
Zeiten vermag! Die Unterschiede von Stand und Besitz hören auf. Es gibt nur: den Genossen.
Und es gibt auch keinen Höherstehenden, sondern: der Vorgesetzte – er gewährt Rat und
Schutz. Ein vollkommener Sozialismus inmitten von Leiden des Militarismus.
Nachdem wir die letzten Häuschen von Rudne hinter uns gelassen hatten und unter der
Eisenbahnbrücke durchgegangen waren, holte uns ein Haufen Landler ein, die sich genauso
atemlos und rot vor Anstrengung wie wir auf dem Weg nach Zimna Woda hetzten. Was
sonderbar war: es waren ihnen auch sechs wie uns. Ein Korporal, ein Gefreiter und vier vom
Fußvolk. Verdächtige Leute. Und sie schauten uns gleichfalls misstrauisch an. Im Kopf
unseres Organisators ging ein schrecklicher Gedanke auf.
„Sakra, Sakra, Sakra! Kreuz Sakrament! Gott nochamol! Die suchen doch nach Bier!“,
wandte er sich mir ganz blass zu. „Um aller Heiligen willen, beeilen wir uns!“
Ach, Ironie des Schicksals! Je schneller wir losgingen, desto schneller wurden die da. Der
Organisator hatte trauriges, unaussprechbar trauriges Recht.
Endlich bekannte Tafel: „Zimna Woda – Kaltwasser!“
Gleich am Rande des Dorfes tauchte das Gasthaus auf.
Verschwitzt dringen wir in den Raum ein, verschwitzt dringen sie ein…
Wehe uns! Ein kleines, qualmiges Zimmer voll von Landlern. Sie drängen sich, treten
einander auf die Füße, schreien, gestikulieren wütend. Eine hübsche, schwarzäugige Jüdin,
geschützt von der mit Flaschen voll bestellten Theke, stöhnt, verdreht die Augen, zuckt mit
den Schultern: „Kein Bier, kein Bier! Khein Bhier, khein Bhier!“
Ich dränge mich an die Theke vor, meine Leute hinter mir und ich schreie laut:
„Ich brauche ein ganzes Bierfass! Ein ganzes, volles Bierfass!“
Der Organisator schlägt stolz auf seine stattliche Geldbörse und brüllt noch mutiger:
„Von mir aus ein Hektoliter! Ich zahle!“, fügte er siegreich und weise hinzu.
„Wir zahlen! Wir zahlen!“, betonen eifrig meine Begleiter.
Allgemeine Stille. Die Erwähnung einer solch gewaltigen Masse Bier wie eines Hektoliters
füllte die traurigen Gesichter der Landler mit Ehrfurcht. Der dickleibige Organisator, vier
Soldaten und ich wuchsen offensichtlich in den Augen des Pöbels, der uns ehrfurchtsvoll
Platz machte.
„Ein Hektoliter Bier?“, schlug die junge Jüdin ihre Hände zusammen und schüttlte
erschrocken den Kopf. „Ein Hektoliter Bier? Das ist Menge, Herr Khorphoral, das ist Menge.
Mamaaaa, Mamaaaa“, piepste sie in die Nachbartür hinein, von woher heitere Stimmen und
Glasklirren schallten. „Dieser Herr will ein Hektoliter Bhier und zahlt sofort. Mamaaaa!“
An der Türschwelle erschien eine dicke, schmutzige Jüdin, die aufgeregt und schrill
quietschte: „Bhier? Ein Hektoliter Bhier? Auweia – wer hat heutzutage ein Hektoliter Bhier?
Hahaha…Kein Bhier, kein Bhier…“
Keins, keins. Was tun? Zwar wusste ich, dass sie lügt, denn aus dem Nachbarzimmer hörte
ich Bierflaschen klirren. Ich kann sehr gut zwischen dem Klirren von Bier- beziehungsweise
anderen Flaschen unterscheiden. Hinter der Tür blödelten wohl Offiziere herum. Was soll ich
aber mit der Jüdin anfangen? Einen Skandal auslösen?
Wir ließen traurig die Köpfe hängen und verschwanden im Haufen anderer Soldaten. Die
bewegte Szene war vorbei. Der Lärm wurde wieder unerträglich und ich sah, wie unsere
strammen Kämpfer eine dunkelbraune, verdächtige Flüssigkeit kaufen. Angeblich Limonade.
Ich drängte mich wieder an die Theke vor und kaufte die „Limonade“. Fünf Kreuzer.
Schmeckt wie Gurkenwasser. Brr. Ich habe noch mehr Durst bekommen. Ich nähere mich ans
ungewaschene Ohr der schwarzäugigen Jüdin heran und sage schmeichelnd:
„Aber, liebes Fräulein, guter Engel, Sie werden mir wohl eine Flasche Bier zur Verfügung
stellen? Ich will nur eine Flasche Bier, nichts anderes. Mein lieber, guter Engel…“
Das Mädchen runzelt die Stirn, stampft mit dem Fuß und piepst schon wieder:
„Kein Bhier, kein Bhier!“
„Zum Teufel mit dir“, murmele ich wütend und will mich vom Fleck rühren. Und doch bleibe
ich stehen. Mir fällt ein, dass ich auch Hunger habe. In der Ecke sehe ich Brot und etwas
Weißes im Tontopf.
„Käse.“
Also gut, Käse, her damit! Ich verlange für drei Sechser Käse, damit auch für den nächsten
Tag etwas übrig bleibe. Das Mädchen nimmt Packpapier und kratzt etwas aus dem Topf
hinein, aber so wenig, dass ich lachen muss.
„Das hier ist für drei Sechser?“, schreie ich. Die Frechheit der Jüdin hat mich wütend
gemacht.
„Und wie viel möchten Sie denn?“, piepst sie giftig.
In mir kochte es. Ich sah, dass es sich hier nur mit Frechheit und Drohungen argumentieren
lässt. Kein Wunder. Während der gesamten Militärkampagne hatte ich Gelegenheit, zu
beobachten, auf welch schmutzige Art und Weise diese Schmarotzer aus unseren Soldaten
den letzten, durch blutige Arbeit verdienten Groschen herauspressen. Ein Soldat hat zwar
während der Kampagne keine hohen Ansprüche, aber was er braucht, braucht er notwendig.
Und gerade dies wurde von den unangenehmen galizischen Juden ausgebeutet. Für schlechte
Ware ließen sie sich das Fünf- bis Zehnfache bezahlen.
„Hör zu, Teufelin! Wirst du mir nicht korrekt abwiegen, werde ich dir den ganzen Kram
beschlagnahmen, ich werde dich vor die Gendarmerie schubsen und dich wegen Erpressung
anzeigen. Hast du verstanden? Und jetzt wiege ab.“
Das Letzte habe ich schon dermaßen schrecklich und laut ausgesprochen, dass sie blass wurde
und die Anderen verstummten. Sie müssen sich dazu vorstellen, dass ich seit Wochen
unrasiert und ungewaschen war, mein Gesicht war von schwarzem Schlamm bedeckt und
über meinem grauen Hemd wehte ein dünner, schmutziger Vollbart. Mit meinen
aufgerissenen Augen erschien ich ihr wohl wenig freundlich, denn sie griff ganz erschrocken
und mit zitternden Händen tief in den Topf hinein und legte ein solches Stück aufs Papier,
dass es jedem christlich fühlenden Menschen warm ums Herz werden musste.
„Bitte schön, Herr Korphoral. Sie brauchen sich nicht ärgern, gehen Sie ins Extrazimmer.“ Sie
neigte sich zu mir hinunter: „Auch Bier werden Sie kriegen.“
Das hört sich anders an.
Ein wunderschönes „Extrazimmer.“ Unter der niedrigen, schwarz gewordenen Decke qualmt
der Rauch, auf der Diele Bierlaken, über das ganze Zimmer durcheinandergeworfene Sessel,
am Eichentisch wild gestikulierende Gestalten, rote, betrunkene Gesichter, ein ganzer Haufen
leerer und angetrunkener Flaschen auf dem Tisch, verstreute Zigarettenhülsen… na, wie im
Stieglkeller in Salzburg, als wir von der dankbaren Bevölkerung Abschied genommen haben.
Und ein Durcheinander von Geschrei, Lärm, Schlagen mit den Gläsern auf den Tisch, Klirren,
wütende Trinksprüche… Sogleich stiegen in mir Bilder aus der guten alten Studentenzeit auf.
Ich setzte mich an einen kleinen leeren Tisch in der Ecke und machte mich an den mühevoll
erworbenen Schatz heran.
„Brimsen! Seht her, Brimsen!“, schrie ich überrascht auf. In der Tat, es war Brimsen, der
echte Brimsen von Makovický. Vor Freude über das liebe Nationalschmankerl wäre ich
beinahe in Tränen ausgebrochen. Warum? Es war fast lächerlich. Mir schien, als ob er den
letzten schmackhaften und aufrichtigen Gruß aus der teuren Slowakei gebracht hätte. Zu jener
Zeit legte ich mir bereits Rechenschaft ab und hegte keine Hoffnung, noch einmal Martinské
hole wiederzusehen. Eine niedliche Erinnerung. Als ob aus dem schweren Rauch des
Extrazimmers die gemütliche Buchhalterei der Brimsenfabrik aufgetaucht wäre, wo ich
anderthalb Jahre unter aufrichtigen, gutmütigen Menschen verbrachte. Vor den inneren Augen
erschien mir auch die zarte, zierliche Figur des Fräuleins Anuška, wie sie mit einem
gewaltigen Buch an meinem Tisch vorbei trippelte…
Die Armen, sie waren wirklich besoffen.
Einer von ihnen, wahrscheinlich ein Reserveleutnant, ganz bärtig und verschwitzt, schüttelte
zornig den Kopf, schwenkte mit der Bierflasche und summte wie folgt:
„Was heist aufmarschieren?
Der Feind muss retourieren.“
Neben ihm ein „Reserveassistenzarzt“, dick wie ein Fass, mit langem schwarzem Vollbart
und einem vergoldeten Zwicker, der sich den Kopf mit den Händen stützte, ab und zu mir der
Hand winkte und sehnsuchtsvoll quietschte: „Tutuuuu, tutuuuu.“
Zwei junge Fähnriche umarmten sich am Tischende, küssten sich, wackelten mit den Köpfen
und trösteten einander weinend:
„Wir lassen uns nicht unterkriegen, Bruder, wir lassen uns nicht unterkriegen; und warum
sollten wir? Etwa wir? Wir? Heldenhafte Söhne berühmter Väter! Mein Bruder, mein Bruder!
…“
Am lautesten schrie ein junger, kahlköpfiger Leutnant. Er brüllte wie verrückt, drehte sich im
Sessel, haute dem dicken Arzt eine auf die Glatze und lachte, schrie und brüllte:
„Kamerad, Herzchen, komm her, auf dass ich dich küssen kann… Hahaha… das war ein
Weibchen, mein Gold… und die Beinchen… hahaha… Kamerad… hahaha…“
Ach, das ist doch ein alter Bekannter. Wirklich er. Der ganze bescheidene, unbeholfene
Fähnrich aus Schwaz. Ich kann mich erinnern, wie er einmal auf dem Übungsplatz vom
Kapitän gemaßregelt wurde, nachdem er den Angriff einer Reserve verpatzt hatte. Der Arme
war so erschrocken, beinahe hätte er geweint. Und jetzt? Leutnant und „schöne dicke
Beinchen… hahaha, Kamerad!“
Ich saß bescheiden in der Ecke. Sie haben mich nicht einmal bemerkt.
In meiner Nähe öffnete sich eine Tür und es trat das Mädchen Nr. 2 mit einem Armvoll
Bierflaschen ein. Das war ein Mädel! Nur in der Nähe von Lemberg gibt es so wunderschön
reife Jüdinnen. Lauter heimtückisches Lächeln, Feuer und Liebe. Sie strotzte nur vor
Leidenschaft und Jugend.
Das Zimmer erfüllten ungeheures Geschrei und Jubel. Der kahlköpfige Leutnant sprang auf
den Tisch, warf die Flaschen auf den Boden, stampfte und jauchzte: „ … Auweh, ich werde
nicht sterben, ich trinke nicht! …“
Ich schrie laut:
„Hierher mit dem Bier!“
Das Mädchen Nr. 2 befreite sich aus der Umarmung des sehnsüchtigen Doktors, der ihr
gerade in jenem Augenblick, mit tränenden Augen, seine Liebe erklärte, wobei er auf seinen
schönen, langen Vollbart schwor – und kam zu mir angelaufen. Zunächst wollte sie davon
nichts wissen, aber als sie die gelben Streifen auf den Ärmeln meines Hemdes erblickte,
wurde sie sofort freundlich und ihr Mund dehnte sich zu einem anmutigen Lächeln aus, so
dass ihr an den Wangen Grübchen auftauchten.
„Sofort!“
Sie sprang wie ein Reh und brachte sofort singend zwei Flaschen Okocimer (24). Sie zog
geschickt den Stopfen heraus und goss ein, dass es weiß und goldgelb aufschäumte…
Das Bier war ausgezeichnet und ich trank in wenigen Zügen die ganze Flasche aus. Längst
vergessene Wonne. Durch meinen Körper strömte ein kitzliges und behagliches Gefühl, in
den Kopf stiegen mir eine Klarheit und Fröhlichkeit – ich verstand gleich die wilde und
weinerliche Heiterkeit dieser Jünglinge. Es ist Krieg! Frohes Gemüt ist der nützlichste
Freund.
Ehe ich es merkte, standen vor mir fünf leere und drei ungeöffnete Flaschen. Das Zimmer
versank in einem Nebel, hier und da drangen scharfe Gebärden und heiße Gesichter der
Offiziere durch, ab und zu flimmerte die geschmeidige Figur des Mädchens Nr. 2… Wie im
Traum hörte ich das Heulen, verlumptes Gelächter, Trinklieder…
Das unselige, unselige Okocimer.
Ich kann mich auch erinnern, dass mir jemand um den Hals fiel, wir schlugen mit den Fäusten
auf den Tisch, dass die Flaschen klirrten und mit heiseren Stimmen rhythmisch summten:
„Milka, du bist meine Liebe, Milka, du bist meine Liebe, ich bin deineeer! …“
Aus dem erstickenden Nebel durch die Tür blickten uns erstaunte, neidische Gesichter der
Landler hin und wieder entgegen, aber die schöne Jüdin drängte sie hinaus und schimpfte mit
einer merkwürdigen, wie unterirdischen Stimme… Alles drehte sich in ein klirrendes
Getümmel zusammen und mitunter hörte ich eine unerhört falsche Stimme brüllen:
„Kossuth Lajos azt üzente...“(25)
Ich glaube, ich bin durchs Fenster hinausgeklettert und in etwas Rosagrünes hineingefallen.
Ich denke, dass ich stand und um mich herum flirrten wie benebelt merkwürdige Umrisse von
Häusern, der Kirche, Gärten, ich fühlte mich wie im Märchenreich der Riesen oder auf dem
„Ringelspiel“… Ich stand da und alles drehte sich um mich herum: Bäume, Felder… drehten
sich herum, dass es mir schwindlig wurde. Dann schien mir, dass ich in etwas unglaublich
Tiefes und Schwarzes hineinfalle und ich fuchtelte verzweifelt mit den Händen…
„Auf! Auf!“, höre ich eine unfreundliche und durchdringende Stimme rufen. Jemand packt
mich an der Schulter und ich reibe mir die Augen und gähne. Der Kopf ist schwer und
schmerzt, vor den Augen habe ich rote Punkte, Kreise, ich spüre bis in die Knochen gehende
Kälte. Ich liege vor dem Zelt inmitten der Männer meines Schwarms, über mir neigt sich
Pohlhammer, packt mich an der Schulter und schreit: „Auf, auf!“
Ich stehe mit unentschlossenem Schritt auf, recke mich und strecke mich so, dass ich mit der
Faust Pohlhammer direkt zwischen die Augen treffe.
„Vergatterung!“
Schade, es schlief sich so gut.
„Wieder weiter?“, frage ich düster die Landler. Niemand wusste, was los war. Wir treten in
Reihen an vor Pyramiden, verdrossen und unzufrieden nörgelnd. Oder schien es meinem
vernebelten Verstand nur so.
„Die Zelte abbauen und zusammenpacken!“
Also ziehen wir doch weiter. Ich bin grantig, unausgeschlafen und vom viertägigen
mühsamen Marsch hundemüde.
7 Guten Morgen (polnisch).
8 Gut (polnisch).
9 Der Mann (polnisch).
10 Elf (polnisch).
11 Gemächlich (ungarisch).
12 Fettgedruckte Stellen im Original hervorgehoben.
13 Zigaretten.
14 Zigarettenmarke.
15 „Hundegeblüt“ (slowakisiertes Polnisch).
16 Wohin denn, Du untreuer Mann? (tschechisch).
17 O, Du Ritter berühmt! (tschechisch).
18 Musikinstrument.
19 Ofen.
20 Wo gehst du hin, kleiner Man? (tschechisch).
21 Na ja, also gehe. (tschechisch)
22 Lemberg.
23 Name einer slowakischen Frauenzeitschrift.
24 Polnische Biermarke.
25 „Lajos Kossuth hat gesagt…“ (ungarisch). Die erste Zeile eines ungarischen nationalistischen Liedes.