Geschlecht &
Sexualität
Geschlecht & Sexualität
Die ersten modernen Debatten über die Geschlechterbeziehungen kamen in Zentraleuropa im Kontext der Aufklärung Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Bereits im Vormärz wurden insbesondere die Bildungschancen für Frauen diskutiert. Zum zeitweiligen politischen Durchbruch verhalf diesen Bestrebungen die Revolution von 1848, die in Frauenvereinen organisatorische Gestalt annahmen. Gegen die vorherrschende konservative Haltung, nach der Frauen ausschließlich für Haushalt und Kindererziehung zuständig waren, wehrte sich die Frauenemanzipation. Dennoch kam es auch nach dem Ausgleich von 1867 zu keiner politischen Gleichberechtigung und selbst in der progressiveren liberalen Programmatik blieb die Betätigung von Frauen auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt.
Für eine neue Dynamik sorgte das Aufkommen der sozialdemokratischen Bewegung. Sie nahm in ihr Programm ausdrücklich Punkte zur Gleichberechtigung der Geschlechter auf, obwohl diese in der realen Politik zunächst nicht umgesetzt wurden. Dafür wurden Schritte für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch von Frauen eingeleitet. Um 1900 wurde sowohl seitens der bürgerlich-liberalen als auch sozialistischen Öffentlichkeit zunehmend die Erweiterung des Wahlrechts auch für Frauen gefordert. Zur gleichen Zeit begann sich die internationale Frauenbewegung – und oft mit ihr verflochten auch der Pazifismus – zu entfalten. In Österreich-Ungarn wurde jedoch diese Zusammenarbeit zwischen Frauen unterschiedlicher Nationalitäten von den entsprechenden Nationalismen behindert.
Nachdem die Forderung des allgemeinen Wahlrechts nach 1918 umgesetzt wurde, forderten insbesondere die sozialistischen Politikerinnen vergeblich die Ausweitung der Frauenrechte in Gebiete, wo immer noch strikte Verbote herrschten, so vor allem im Bereich der Geburtenkontrolle. Die Frauenbeschäftigung nahm sprunghaft zu, es entstanden neue „Frauenberufe“ und Frauen entdeckten zunehmend auch die Freizeit und Massenkultur für sich. Dem entsprach das Erscheinungsbild der emanzipierten Neuen Frau.
Auch die Männerbilder entwickelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vom adligen „Edelmann“ hin zum „fleißigen“ Bürger, bis sich um 1900 auch der politisierte Arbeiter zu Worte meldete. Männer dominierten nicht nur die traditionelle große Politik, sondern auch die kleineren Nationalbewegungen. Neben demjenigen des bäuerlichen und bürgerlichen Ernährers bestand weiterhin das soldatische Ideal fort. Dieses wurde durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs zugleich erhärtet und erschüttert. Mit der körperlichen und seelischen Beschädigung ging eine Erosion traditioneller Männlichkeitsideale einher. Die schwierige Rückkehr ins zivile Leben begünstigte in der Zwischenkriegszeit die Verbreitung von Schreckbildern der Frauenemanzipation und autoritären politischen Einstellungen.
Der Siegeszug des Faschismus mit seiner reaktionären Geschlechterordnung machte alle demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte wieder rückgängig. Diese Tendenz verschwand in Österreich auch nach 1945 nicht, während in den Staaten des sowjetischen Einflussbereichs die Gleichberechtigung der Geschlechter zumindest in der Arbeitswelt vorangetrieben wurde.
Auch die vorherrschenden Vorstellungen über die menschliche Sexualität waren an die Realität der bürgerlichen Familie gekoppelt. Die übermächtige Rolle des angeblich vom Verstand geleiteten pater familias bzw. die übertriebene Betonung der weiblichen Emotionalität prägten seit dem 19. Jahrhundert den dominanten Diskurs über Sexualität. Dieser manifestierte sich selbst in der Freudschen Psychoanalyse und deren zentralen Kategorien der Hysterie, der Kindersexualität und des Ödipus-Komplexes. Die traditionelle, ja bigotte Sexualmoral beschränkte sich nicht auf ländliche und religiöse Kreise und Milieus, vielmehr prägte sie auch das städtische Bürgertum. Sie offenbarte sich besonders im Anstieg der Prostitution um 1900 und erst recht während des Ersten Weltkriegs.
Die Doppelmoral und komplementär dazu die Pornographie waren nicht zuletzt mit Stereotypen von sexuell und ethnisch Anderen eng verbunden. In diesem Zusammenhang ist die Dämonisierung der Homosexuellen, aber auch das Gewicht der sexuellen Stereotype im Antisemitismus zu sehen. Bilder der „schönen Jüdin“ und „schönen Zigeunerin“ mutierten um 1900 zur bedrohlichen Femme fatale, jüdische Männer und andere Orientalen wurden als sexuelle Verführer bzw. als Mädchenhändler attackiert. Die Dichotomie der Geschlechter war Anfang des 20. Jahrhunderts weit verbreitet, wovon nicht zuletzt pseudowissenschaftliche Theorien oder Kunstwerke zeugen.