Aranka Böhm an Karinthy Ferenc (1939)
Kleiner, mein Leben, ich schreibe dies auf einer Bank im Central Park, deshalb kritzle ich, in diesem wunderschönen, riesigen Park und Wurstelprater, inmitten von New York City, der, wohin man auch schaut, von riesigen Wolkenkratzern umsäumt wird… Kleiner, ich war sehr bestürzt über deinen Brief, ich habe die ganze Nacht geweint. Deine emotionalen Aspekte, die dich davon abhalten, hierher zu kommen, sind typisch europäisches Denken, das kann man von hier aus noch deutlicher sehen. In der Tat ist es genau diese nutzlose und einfältige Sentimentalität, die dafür verantwortlich ist, dass es mit den Dingen so weit gekommen ist, wo wir uns jetzt befinden … Was soll das mit Fradi und Kettenbrücke und Gyula Krúdy? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Könntest du wegen solcher Albernheiten in einem Land bleiben, das dich in den kommenden Jahren mit ziemlicher Sicherheit vernichten wird? Höre mir zu, ich flehe dich an, das lässt sich von hier aus genauer ermessen, wenn du schon nicht mehr an mütterliche Vorahnungen glaubst. Der Krieg hat begonnen, er ist nicht mehr aufzuhalten, und die Hitler-Maschinerie wird um euretwillen nicht an den Grenzen Ungarns Halt machen. Und wer ist Karola? Doch nicht das dünne, schlaksige Mädchen, mit dem du früher auf Konzerte und zum Schlittschuhlaufen gegangen bist? … Du sollst wissen, dass ich auch Heimweh habe und dich wahnsinnig vermisse, und wenn du nicht kommst, fahre ich selbst nach Hause. Aber das ist hundertprozentiger Unsinn, als würde man in einen glühenden Ofen springen. […] Ich bin schuldig, mir ist das hier, in Amerika klar geworden, wo ich so hart für die kleinen Dinge kämpfen muss; ich war die meiste Zeit meines Lebens ein Parasit, ein Schmarotzer und ein Abhängiger und ein Konsument, der nichts produziert, und das ist eine bittere Erkenntnis in meinem Alter. Aber dort in Europa würde ich nicht für meine Vergehen bestraft werden, sondern für etwas, an dem ich unschuldig bin. Ich schließe jetzt, überleg es dir, schreib mir, es küsst dich
Deine Mutter
Deutsch von Endre Hárs
Quelle: A valóság valószínűtlen lett. Szemelvények a magyar Holokauszt-irodalomból I. A szövegeket válogatta, a kötetet és a jegyzeteket összeállította Török Dalma [Die Wirklichkeit ist unwahrscheinlich geworden. Texte aus der ungarischen Holocaust-Literatur. Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Dalma Török]. Tevan Alapítvány 2015, 16–17.
Mit freundlicher Genehmigung der Tevan-Stiftung.