Der Zusammenbruch von 1918 in unserer jüngsten Literatur
- Autor*in: Zoltan Szende
- Übersetzt von: Bernadett Modrián-Horváth
- Behandelte Person: Ludwig Winder
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1938
- Erschienen in: Diárium
- Ausgabe-Datum: 1938
- Sprachen: Deutsch
- Originalsprachen: Ungarisch
- Gattung: Artikel
Übersetzung
Zoltán Szende: Der Zusammenbruch von 1918 in unserer jüngsten Literatur
Es gibt keinen Bereich auf dem ungarischen Globus, der von der schweren Hinterlassenschaft der tragischen Ereignisse vor zwanzig Jahren verschont geblieben wäre. Und es dauerte lange, fast ein Jahrzehnt, bis wir unser seelisches Gleichgewicht soweit zurückgewannen, dass wir langsam, zuerst uns herantastend, versuchten, zur Besinnung zu kommen, uns zu erinnern und darüber nachzudenken, wie es zu dem Kataklysmus des historischen Unglücks kommen konnte und in welchen Ketten von Ereignissen er über uns hinwegfegte. Gleichwohl wurden diese Erkenntnis und dieses Nachsinnen durch ein weiteres Phänomen beschleunigt, das außerhalb unserer verstümmelten Heimat auftrat. Der Umbruch, der Mittel- und Osteuropa in ihren Grundlagen erschütterte, hat nicht nur das jahrtausendealte System unserer Heimat unter den Trümmern der Doppelmonarchie begraben, sondern auch deren deutschsprachige Teile jenseits der Leitha verstümmelt und lebensunfähig gemacht. Und bald mussten wir mit Entsetzen zusehen, welche Verleumdungskampagnen mittels der deutschen literarischen Sprache sogar gegen den politischen Auftritt Ungarns während des Weltkriegs und gegen die unvergleichlichen Leistungen unserer Soldaten auf allen europäischen Schlachtfeldern geführt wurden. Die Österreicher und die Reichsdeutschen, die durch das Friedensdiktat zwei Jahrzehnte lang an der politischen Vereinigung (Anschluss) verhindert worden waren, machten zunächst gegenseitig die politische Führung der anderen für die große Tragödie verantwortlich, und als dies misslang, schickten sie sich an, über die Ungarn zu Gericht zu sitzen – ohne die Angeklagten anzuhören. So mussten wir auf neue Mittel der gerechten Selbstverteidigung zurückgreifen: durch die Kraft des Geistes und der Feder führten wir unumstößliche Wahrheits- und Fakten-Phalangen gegen die vollkommene Gleichgültigkeit, ja sogar Böswilligkeit der damaligen Weltöffentlichkeit ins Treffen.
Nur derjenige, der diese Ereignisse erforscht, der die fieberhafte, mit sozialer und politischer Narkose gefüllte einzigartige Stimmung und Atmosphäre der Monate des Zerfalls der Monarchie und des Zusammenbruchs von Ungarn Minute für Minute durchgelitten hat, der die Frontsoldaten heimkehren sah und hörte, und der den Ablauf der Ereignisse seit über ein Jahrzehnt aus Archivdokumenten und Tausenden von Truppenjournalen, aus persönlichen Erinnerungen von unzähligen Oberbefehlshabern und Frontkämpfern rekonstruiert, kann sagen, wie schwer es ist, einen Kampf zu beginnen, dessen einzige Waffenart die Wahrheit und dessen einziges Kampfziel die Verteidigung der Ehre einer Nation ist, die zu Unrecht mit Füßen getreten wurde.
[…]
Eines der wichtigsten Instrumente zum Verständnis des Zeitgeistes ist die Erforschung des intellektuellen Erbes führender Persönlichkeiten. Von unschätzbarer Wichtigkeit ist die Veröffentlichung der Parlamentsreden von István Tisza durch die Ungarische Akademie der Wissenschaften, deren vierter Band mit einer Einführung und mit erklärenden Anmerkungen von Professor József Szentpéteri Kun erschien. Die Wissenschaftlichkeit mit praktischer Nutzbarkeit geschickt vereinende Vorgehensweise von Professor Kun, die bei der Herausgabe der Reden zur Geltung kommt, wird die Aufgabe der zukünftigen Geschichtsschreibung erheblich erleichtern. Anstatt die Reden von Tisza chronologisch oder nach bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen – keine dieser Lösungen wäre zufriedenstellend gewesen –, beschrieb er nämlich in seinen Anmerkungen und Erklärungen zwischen den einzelnen Reden beziehungsweise Parlamentssitzungen den historischen Hintergrund der gesamten Epoche, wodurch auch die klaren politischen Perspektiven der Reden von Tisza zum Vorschein kommen. Aus den Reden des großen ungarischen Politikers liest man überall die sich immer mehr verschärfende Krise des österreichisch-ungarischen Ausgleichs heraus, und wir können uns dem überwältigenden Gefühl nicht entziehen, von welch großer europäischer und ungarischer Bedeutung die Aufgabe war, die er durch die Aufrechterhaltung dieses Ausgleichs im Interesse unserer nationalen Geschichte auf sich genommen hatte. Atemlos verfolgen wir zurück, welchen ungerechten, gar niederträchtigen Angriffen Tisza in Zeiten der Obstruktionspolitik ausgesetzt war – und zwar ausgerechnet von denjenigen, die das Schicksal des Landes vor zwanzig Jahren in ihre Hände nahmen.
Die Rolle von István Tisza, die er zuletzt bei den Lösungsversuchen der Südslawenfrage spielte, gehört zu den am wenigsten bekannten Einzelheiten des Zusammenbruchs. Besonders interessant und wichtig sind diesbezüglich die Daten, die Béla Nádasdy, der Tisza sechs Wochen vor seinem Tod auf seiner Erkundungsreise in die südslawischen Gebiete begleitete und seine Erinnerungen unter dem Titel Der letzte Versuch 1918 veröffentlichte, ans Tageslicht fördert. Dieses sachlich und offen geschriebene Buch zeigt nicht nur die furchterregende Ausbreitung der südslawischen Propaganda in all den kroatisch-slawonischen, bosnischen und dalmatinischen Gebieten, die der Autor mit Tisza bereist hatte, sondern greift sogar die vieldiskutierte Frage auf, ob Tisza der Gefahr in ihrem vollen Ausmaß bewusst war, die die Verbreitung der südslawischen Idee für die Bewahrung der historischen Vorherrschaft Ungarns bedeutete. Vergleicht man die Bemerkungen von Tisza, die er an den einzelnen Stationen der Reise an den Autor richtete, mit seinem Verhalten im Parlament am Ende seines Lebens, so kommt man zum Schluss, dass er die Tragweite der südslawischen Bewegung während seiner Reise klar erkannte, aber die Richtung der ungarischen Politik noch nicht festlegte – oder im gegebenen Moment nicht festlegen konnte –, bis sein tragischer Tod dem großen Rätsel ein Ende setzte.
Im Zuge der Erforschung und Erkenntnis der politischen Haltung von István Tisza gerieten die Ansichten des Kronprinzen Franz Ferdinand, der ihm in vielerlei Hinsicht gegenüberstand, sogar in Ungarn in den Mittelpunkt des Interesses; diese sorgten schon bislang für zahlreiche literarische Diskussionen. Ludwig Winders zweibändiges, ins Ungarische übersetztes Werk mit dem Titel Der Thronfolger zeigt, wie vielschichtig die Auseinandersetzung mit den politischen Plänen von Franz Ferdinand, dem „großen Sphinx“, für die Historiker ist, und wie schwierig es ist, sich über ihn ein eindeutiges Urteil zu bilden. Wie Winder selbst bekennt und in zahlreichen Facetten darstellt, sah der Thronfolger in der damals bestehenden Form des Ausgleichs von 1867 den Ursprung des Zerfalls der Monarchie, da diese auf zwei Säulen: auf dem Deutschtum und dem Ungarntum ruhte, während die Klärung der Fragen des öffentlichen Rechts bezüglich des Slawentums ausblieb und eine Ausbreitung der panslawischen Propaganda nach sich zog. Die Entwicklungen des Kampfes zwischen der Richtung der dynamischen Umwandlung, vertreten durch den Thronfolger, und der Verteidigung des Status quo ante durch den Kaiser zeigten freilich oft ungarnfeindliche Bezüge. Aber den bisherigen Forschern ähnlich konnte auch Winder keine explizite Stellungnahme des Thronfolgers gegen die ungarische Staatsidee nachweisen. Vielmehr ist dem Verfasser zuzustimmen, dass Franz Ferdinand den Zerfall der Monarchie in vielerlei Hinsicht vorausgesehen hatte und diesem mit einer Umgestaltung des öffentlichen Rechts entgegenwirken wollte, deren Gegner er für den Fall seiner Thronbesteigung nicht nur aus der ungarischen, sondern auch aus der österreichischen Politik ein für alle Mal ausschalten wollte, selbst um den Preis einer bewaffneten Unternehmung.
[…]
Deutsch von Bernadett Modrián-Horváth
Zoltán Szende: Az 1918. évi összeomlás legújabb irodalmunkban. In: Diarium 1938/7-8., S. 177–180.