Die vorbeugende Ohrfeige
- Autor*in: Józsi Jenő Tersánszky
- Übersetzt von: Orsolya Rauzs
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1945
- Erschienen in: Új Idők
- Ausgabe-Datum: 01. 09. 1945
- Sprachen: Deutsch
- Gattung: Feuilleton
Übersetzung
Józsi Jenő Tersánszki: Die vorbeugende Ohrfeige
Schriftsteller beginnen ihre Erzählung manchmal folgendermaßen: „Ich habe die folgende Geschichte von dem und dem gehört“. Sie beschreiben auch die Umgebung, die Stimmung und den Erzähler, obwohl das Ganze eine große Flunkerei ist. Man könnte eine solche Erzählung ein Pseudo-Plagiat nennen, das der Autor einen Pseudo-Erzähler in einer Pseudo-Umgebung und Pseudo-Stimmung ausdenken lässt.
Dagegen ist die folgende Geschichte ein authentisches, echtes Plagiat. Sie wurde mir von meinem väterlichen Freund und Schriftstellerkollegen, einem alten Professor, erzählt. Vielleicht werden wir über den Fall auch in seiner Biografie lesen können, so, wie ich darüber hier berichte. Ob er mir diese frühere Veröffentlichung übelnimmt? Ganz sicherlich nicht, denn er gehört zufällig zu den gelehrten Männern, die strikt die Handwerker der Literaturwissenschaft geblieben sind und nicht versucht haben – wie einige es so kläglich tun –, Novellen, Romane oder Gedichte auszudenken, nur weil sie wegen ihres Ansehens die Möglichkeit hatten, diese zu veröffentlichen. Sie haben trotz Ermutigung nicht darauf gesetzt, dass die Muse der Belletristik statt der Muse der Wissenschaft poetische Geschichten in ihre Seelen flüstern würde.
Nun beginne ich mit der Erzählung.
*
Als es mir nach der Belagerung von Budapest zum ersten Mal gelang, über die improvisierte Donaubrücke von Buda nach Pest zu gehen, begegnete ich dem alten Professor an der Ecke der Király-Straße in der größten Menschenmenge. Wir küssten und umarmten uns, wie es vertraute Freunde und sogar gute Bekannte heutzutage tun. Dann unterhielten wir uns über die Ungeheuerlichkeiten, die wir erlebt hatten.
Ich bin mit dem alten Professor schon seit Jahrzehnten befreundet, aber ich wusste nicht, dass er Jude ist. Anscheinend kann selbst ein so ruhiger und aufrichtiger Mensch, der eine segensreiche Arbeit leistet, in die Gruppe der Ausgestoßenen und Stigmatisierten gelangen.
Als wir uns da unterhielten, ergriff der alte Mann plötzlich meinen Arm und zeigte mit fast leidenschaftlicher Freude auf jemanden in der auf der Straße strömenden Menschenmasse:
»Aha! Endlich!«, schrie er. Doch zwei Augenblicke später lockerte sich sein Griff und er murmelte traurig: »Das ist nicht er! Leider habe ich mich geirrt. Dieser Polizist sieht so aus wie er.«
Der alte Mann deutete mit seinem Kopf auf den vorbeigehenden Polizeikommissar mittleren Alters. Ich starrte verständnislos und stotterte.
»Was ist los? Was … «
»Warte. Das muss ich dir erzählen«, nahm mich der Alte am Arm. Und er begann seine Geschichte da, im großen Gedränge auf der Straße drängelnd.
*
… Weißt du, auch ich wurde aus meiner Wohnung weggebracht, zuerst in ein Haus mit dem Sternzeichen, dann in ein anderes und schließlich wurde ich mehrere Tage sinnlos herumgeschleppt, ans Donauufer, in eine Ziegelfabrik, dann am Ende wieder in ein Haus mit dem Stern …
Nun regnete es an jenem Abend ganz heftig, während wir irgendwo entlang der Pozsonyi-Straße marschierten.
Ich wäre hie und da beinahe aus der Menschenschlange gefallen. Obwohl ich aus meinen Sachen immer wieder nur das Nötigste selektierte, war mein Gepäck so schwer, dass ich darunter taumelte. Ich hatte Angst, dass ich aus der Schlange treten würde, so müde, so hungrig und so durstig war ich. Du kannst dir vorstellen, ein alter Mann wie ich, der sein ganzes Leben lang sitzende Arbeit gemacht hat …
Aber das ist Nebensache!
Unsere Gruppe wurde an jenem Nachmittag von einem sehr wilden und grausamen Pfeilkreuzler eskortiert. Er ohrfeigte und trat uns, schrie und drohte selbstverständlich zu erschießen, wer zurückfiel …
Wenn unsere Schlange von hinten nicht von ihm angetrieben worden und ich nicht der Letzte gewesen wäre, hätte ich es nicht länger ausgehalten. Aber die große Angst vor diesem Kerl spornte mich an, und ich kroch und taumelte mein Schicksal verfluchend …
Jedoch ist nicht einmal die Todesangst genug Treibstoff, um eine so völlig abgelebte Maschine wie mich ohne Ende in Bewegung zu halten … Plötzlich sah ich den dunklen, windgepeitschten Abend zu einem hellen Wirbel werden … Oh, weh! Mir wird schlecht! Mir ist schwindlig, ich falle hin …
Ich konnte auf keinen Fall weitergehen … Ich blieb stehen und taumelte …
Da passierte blitzschnell das Folgende.
Der junge Pfeilkreuzler stürzte sich mit fast blutrünstiger Schadenfreude von hinten auf mich und hob – fürs Erste – den Kolben seines Gewehrs, um auf meinen Kopf zu schlagen … Doch direkt neben mir eskortierte uns auch ein schweigsamer Polizeikommissar mittleren Alters.
Dieser Polizist schien keineswegs ein barmherziger und gutmütiger Mensch zu sein. Er durfte sich auch nicht so benehmen. Ähnlich wie der Junge brüllte er die Menschen mit den Sternen an und stoß sie in der Schlange … und so weiter. Höchstens schlug er niemanden so kräftig wie der Pfeilkreuzler-Bursche …
Aber als der Pfeilkreuzler meinen Kopf mit dem Gewehrkolben bedrohte, war der Polizist schneller und verpasste mir eine schmerzhafte Ohrfeige. Und zwar eine so heftige, dass ich an die Wand fiel. Besser gesagt, an ein Tor. Und da sank ich auf das Pflaster nieder.
»Überlassen Sie ihn mir«, fuhr der Polizist den Pfeilkreuzler-Burschen barsch an und zeigte auf mich. »Ich werde ihn nach der Gruppe treiben. Kümmern Sie sich halt um die anderen in dieser Dunkelheit.«
Damit trat der Polizist mir gewaltig in den Hintern, während ich auf dem Boden lag.
Der Pfeilkreuzler wieherte:
»Komm schon, komm schon. Steh auf, Moses.«
Dann ließ er uns dort und jagte die Gruppe weiter.
*
Ich lag also da im strömenden Regen auf dem nassen Asphalt, halb bewusstlos und todbereit. Der Polizist trat mich weiterhin mit dem Absatz seines Stiefels, um mich zu ermutigen. Danach kickte er mein Gepäck ebenfalls mit seinem Stiefel zuerst neben mich, dann unter das Tor. Er kickte auch mich schreiend und drohend weiter.
»Kriechen Sie bloß unter das Tor, verdammt! Ich will nicht Ihretwegen nass werden.«
Nachdem ich auf allen Vieren irgendwie unter das Tor gekrochen war, spähte mein Polizist nach der marschierenden Gruppe sowie durch das Tor.
Die Gruppe war weg. Das Treppenhaus war still.
Der Polizist beugte sich zu mir und flüsterte gut artikuliert und deutlich:
»Herr Professor! Reißen Sie sich um Gottes willen zusammen, wenn Sie können. Und folgen Sie mir. Aber ganz leise. Ich eskortiere Sie jetzt, offiziell.«
»Aber wie das!«, sagte ich verwundert.
Worauf der Polizist außer sich brüllte:
»Halt die Fresse, du stinkender Jude! Entweder du gehst oder ich erschieße dich. Verdammt noch mal!«
Ich hatte meine restliche Kraft beim Liegen zurückgewonnen. Ich raffte mich vom Pflaster auf und torkelte vor dem Polizisten hin und her. Er half mir, mein schweres Gepäck zu tragen, indem er es von hinten anhob. Wenn jemand kam, schlug er von hinten darauf und schrie, dass ich mich beeilen soll …
Auf diese Weise legten wir einen langen Weg zurück, bis wir an einem der Mietshäuser in der Váci-Straße ankamen.
»So! Hier übernehme ich Ihr Gepäck«, sagte der Polizist. »Sie könnten ihn nicht in den sechsten Stock tragen. Hier werden Sie in Sicherheit sein. Aber reden Sie nicht. Gehen Sie, schnell.«
»Aber um Gottes willen! Woher kennen Sie mich?«
»Sie haben meinen Sohn unterrichtet. Aber wir sollten jetzt den Mund halten. Einmal haben Sie mir eine Zigarre angeboten, als ich Sie wegen meines Sohns angesucht habe … Genug! Gehen wir!«
*
Wir stiegen im heruntergekommenen Haus am kaputten Aufzug vorbei in den sechsten Stock, wobei der Polizist mein Gepäck trug und ich das seine, was nichts anderes war als ein langes, frisch gebackenes Brot. Er überreichte es mir mit folgenden Worten:
»Das nehmen Sie jetzt von mir. Und wenn Sie sehr hungrig sind, können Sie es ruhig essen. Es ist weich. Ich gebe es Ihnen.«
*
Die vielen weiteren Episoden meiner Flucht und meines Untertauchens sind nicht interessant. Ich hielt mich hinter der Brandmauer eines Ateliers, in einer verlassenen Toilette auf … wochenlang. Der Polizist versorgte mich mit Nahrung. Er half mir, in ein Dorf zu fliehen …
Sein Sohn, mein Schüler, fiel als Soldat, und der Polizist hat sich später nicht gemeldet. Ich habe, soweit es heute möglich ist, bei allen höheren Behörden nach ihm gesucht. Keine Spur von ihm. Es würde mir sehr leidtun, wenn ich ihn nicht selbst belohnen oder belohnen lassen könnte, wenn ich diesen Menschen gar nicht wiedersehen könnte … Aber du hast es ja eilig … Ich wollte dir eigentlich so viel erzählen …
*
Und ich habe das jetzt Ihnen weitererzählt … denn es war einer Erzählung wert …
Deutsch von Orsolya Rauzs
Tersánszky Józsi Jenő: A megelőzött pofon. In: Új Idők, 01.09.1945, H. 5, 141.