Die Zeit vor dem und während des Weltkriegs
- Autor*in: Helene Erdödy
- Publikationsdaten: Ort: Zürich, Wien, Leipzig | Verlag: Amalthea-Verlag | Jahr: 1929
- Ausgabe-Datum: 1929
- Originalsprachen: Deutsch
- Gattung: Tagebuch
Übersetzung
Gräfin Helene Erdődy. Die Zeit vor dem und während des Weltkriegs
Nach dem Tode meines lieben, teuren Fery fand die Erbteilung und der Verkauf des Krugerstraßenpalais statt. Nur ein Zinshaus wurde zurückbehalten. Ich selbst aber übersiedelte in eine schöne Parterrewohnung, Ecke Giselastraße-Akademiestraße, die hinter dem Künstlerhause gelegen ist. Als Witwensitz war mir Somlóvár zugewiesen worden, seit jeher mit all seinen schönen Erinnerungen mein liebster Aufenthalt. Der Wiener Séjour wurde etwas verkürzt, so daß ich nun gewöhnlich schon Mitte Mai aufs Land übersiedelte. Nichte Many Oberndorff, die in die Giselastraße zu mir gezogen war, ist, solange ich diese Wohnung inne behielt, meine treue Begleiterin gewesen.
Jahr um Jahr verfloß in dieser neuen Umgebung still und ruhig. Ab und zu besuchte ich Kinder und Enkel zu Vép und Osterwitz. Die Herbstzeit aber verlebte ich, wie bisher, in Galgócz, doch nicht mehr als Hausfrau, sondern als Gast meines lieben Sohnes Imre, des nunmehrigen Chefs des Hauses Erdödy. Rings um mich her war eine lustige Enkelschar aufgeblüht, einige derselben sind damals schon erwachsene Leute gewesen. Ilona, die Älteste unter ihnen, war seit dem 15. Februar 1906 Gräfin Hans Hardegg und seit dem 25. Februar 1909, dem Geburtstage des Jüngeren, Mutter zweier Söhne, Imsi und Miki; Vilmos, der präsumtive Thronfolger, ist damals Attaché und an nicht allzu entlegenen Posten, wie Brüssel, Paris, Kopenhagen gewesen. Außerdem gab‘s noch zwei ledige Komtessen, Maria und Jella im Hause. Noch mehr Jugend begrüßte mich in Vép: Fery, der Älteste, am 3. März 1901 geboren, dann Peter, Pali, Marietti, Anti und schließlich Illy, das „Kriegskind“, denn sie erblickte am 10. September 1917 das Licht der Welt. Aber auch im schönen Kärnten zu Osterwitz gab‘s drei Enkel Khevenhüller – Fery, Duly (Georg) und Ata (Antonie).
Der erste, der aus unserem Kreise scheiden mußte, war mein armer Schwiegersohn Alfred Khevenhüller, ein ungemein agiler, energischer und jugendlich aussehender Mann, passionierter Jäger, und dabei einer der besten und treffsichersten Schützen, die ich je gekannt. Er fungierte noch bis in die letzten Jahre seines Lebens als Mitglied des österreichischen Abgeordnetenhauses, in welchem er dem verfassungstreuen deutschen Großgrundbesitz angehörte, der Partei seines unglücklichen Freundes Stürgkh, der mitten im Weltkriege von ruchloser Mörderhand fallen mußte.
Alfred hatte schon längere Zeit über Schmerzen geklagt, doch war er sonst überaus lebenslustig und bei allem „dabei gewesen“. Als aber die Beschwerden immer mehr und mehr überhandnahmen, begab er sich nach Heidelberg auf die Klinik eines der damals berühmtesten Operateure, Professor Cerny, der sofort zur Operation schritt. Das brachte zwar eine momentane Erleichterung, aber nun wurde es auch leider klar, daß unser armer, guter Alfred ein verlorener Mann war.
Er überlebte diese schwere Operation noch drei Jahre und machte sogar lange, beschwerliche Jagdmärsche mit. Erst im Sommer 1911 begannen seine Kräfte, die er mit aller ihm eigenen eisernen Energie zusammengehalten, nachzulassen, und am 23. Dezember schloß er zu Osterwitz zu unser aller tiefstem Schmerze die Augen für immer.
Um diese Zeit war zur deutschen Botschaft in Wien als Botschaftsrat mein Neffe Alfred Oberndorff von der Neckarhausener Linie, der älteste Sohn Vetter Karls und dessen liebenswürdiger Gattin Therese, geborenen Baronin Varicourt-Albini, versetzt worden. Alfreds Gemahlin, eine sehr schöne Frau, ist eine Tochter des damaligen holländischen Gesandten in Paris, Baron Stuers, und dessen Gattin, einer geborenen Astor aus dem bekannten New Yorker Finanzmagnatengeschlechte. Diese junge Ménage und ihre lieben Kinderchen sah ich von nun ab oft als Gäste in meinem Wiener Heim.
Das Jahr 1913 brachte wieder eine Hochzeit in meiner Familie. Enkel Fery Khevenhüller hatte sich mit seiner Cousine Netty Fürstenberg, der Tochter des Fürsten Max Fürstenberg, verlobt, auf dessen Sommersitze Donaueschingen bekanntlich die Quellen der Donau sind. Die Hochzeit fand am 16. August auf der alt historischen Schwarzwaldburg Heiligenberg statt.
Seit den Balkankriegen hatte die Weltlage keine Beruhigung mehr finden können. Der von den Russen beständig geschürte, schon fast pathologische Haß der Serben gegen alles Österreichische und Ungarische, die deutsch-englischen Wettrüstungen zur See und die fabelhafte Entwicklung der deutschen Industrie unter der vielgeschmähten Herrschaft Wilhelms II., welche
die weniger anpassungsfähigen, wenn auch qualitativ vielleicht wertvolleren Artikel der englischen vom Weltmarkte zu verdrängen begannen, das alles war ein trefflicher Nährboden für einen Weltkrieg.
So brach denn das Jahr 1914 an, und mit ihm unser Unglück. Über jene malheureuse Todesfahrt des Erzherzog-Thronfolgers habe ich anläßlich eines Véper Besuches der Frau eines hohen und beständig um seinen höchsten Herrn weilenden, ja ihm fast befreundeten Funktionärs sehr interessante und authentische Aufschlüsse erhalten. Der Erzherzog kam, von finsteren Ahnungen geplagt, nur mit Widerwillen und Sorge diesem Befehle des allerhöchsten Kriegsherrn nach. Die Herzogin von Hohenberg aber folgte keineswegs, wie viele behaupten, aus Eitelkeit und nur, um zu glänzen, ihrem Gatten dorthin nach, sondern vielmehr in ihrer furchtbaren Angst um den Gemahl und in dem irrigen Glauben, die Barbaren dort unten wären so galant, nichts gegen ihn zu unternehmen, wenn eine Dame an seiner Seite säße. Schon bei der Wegfahrt von Wien hatte das Malheur für den Thronfolger begonnen: Das elektrische Licht in seinem Salonwagen funktionierte nicht und er mußte die Nacht bei einer flackern den Kerrze verbringen. In Metkovich angekommen, mußte er auf den noch nicht vorhandenen bosnischen Eisenbahnzug warten und meinte dabei zu den Herren des Gefolges: „Wenn dieser Zug nur unterwegs in irgendeinen Abgrund stürzte und gar nicht herkäme, dann könnte ich wenigstens nicht dorthinreisen!“ Warum hat nun Exzellenz P. nicht auf den Budapester Stadthauptmann gehört, als ihm dieser berichtete, daß ein Komplott gegen das Leben des hohen Herrn bestünde?
Warum hat er das Angebot desselben, ihm einen Stab tüchtiger Detektivs zur Verfügung zu stellen, was gegen 20.000 K kosten würde, unter dem Prätexte abgelehnt, das wäre zu teuer, und er habe seine eigenen Leute, wenn er, wie es leider der Fall, diese Leute eben nicht hatte? Was aber tat P. für die Sicherheit des Gefährdeten? Die 20 bis 30 sogenannten „Detektivs“, die ihm zur Disposition standen, machte er schon von weitem durch glänzende Messingschildchen kenntlich, die sie im Knopfloche trugen, so daß der Erzherzog jedesmal wütend war, wenn ihm wieder ein solcher begegnete, und daß einer der Attentäter solch einen in der Sonne blitzenden Monsieur fragte, wo denn die Herrschaften vorüberführen, denn er möchte sie auch gern sehen! Warum waren die Gassen nicht, wie gewöhnlich bei Ankunft von Majestäten, und wenn auch vielleicht sogar gegen den Willen des Erzherzogs, mit Militär spalieren gesichert? Warum wußte P., dieser angeblich so große Kenner serbischer Angelegenheiten, nicht einmal, daß der Tag der Niederlage auf dem Amselfelde ein Nationaltrauertag der Serben ist, und daß es dieselben wie eine Provokation auffassen würden, wenn sich der hohe Herr gerade an diesem Tage feiern lassen würde? Das hätte diesem „Wissenden“ doch jeder Dienstmann in Sarajevo erzählen können oder am Ende …?
So die Gräfin! Der Graf referierte und warnte in Wien. P. wurde trotzdem Armeekommandant gegen Serbien! Nun, bei der seit jeher etwas allzu großen Verehrung, die man leider in Österreich den sogenannten „Kapazitäten“ entgegenbringt, ist alles möglich! Ein Witzkopf sagte einmal: „Österreich hat viele große Herren, aber keine großen Männer. Man könnte außer dem noch beifügen: „und viele ‚Kapazitäten‘, aber keine Kapazität“.
Über die unerfreuliche Zeit zwischen August 1914 und Oktober 1918 ist es besser zu schweigen. Nur eines merkwürdigen kleinen Bildes möchte ich hier Erwähnung tun, das sogar einen Blick in die politische Zukunft bot. Am 23. Juli 1914, also einige Tage vor Kriegsbeginn, erhob sich plötzlich ein furchtbares Ungewitter mit einem katastrophalen Wirbelsturm, der überall großen Schaden anrichtete. Vom Somlóvárer Schlosse riß er das ganze Blechdach herunter, so daß es auf Weg und Wiese vor dem Hause lag. Ich ging natürlich sofort, nachdem sich der Zyklon gelegt hatte, in den Garten hinaus, den Schaden zu besichtigen, mußte aber unterwegs plötzlich anhalten, da sich mir in, oder besser gesagt, an einem Gebüsche ein merkwürdiger Anblick bot. Ich erblickte dort nämlich für einen Moment vier kleine, bunte Brustbilder (Porträte), welche Kaiser Franz Joseph, Wilhelm II. und den bulgarischen König nebeneinandergestellt und darunter den Sultan zeigten. Das Ganze mutete mich eher unschön und fast komisch an. Jahre später, als die beiden letztgenannten Monarchen an unsere Seite getreten waren, konnte man derartige unkünstlerische „Vierbund“-Verherrlichungen in allen Tabaktrafiken hängen sehen. Ich aber hatte diese kleine Vision bereits am 23. Juli 1914, als man noch höchstens an einen Krieg mit Serbien, und im besten Falle an eine Bundesgenossenschaft Italiens oder Rumäniens dachte, und habe mir, Gott weiß, nie über äußere oder innere Politik den Kopf zerbrochen und meine diesbezügliche Weisheit nur, wie jeder andere, aus Zeitungen geschöpft. Als ich es dann zu Hause meinen Lieben erzählte, erregte ich damit nur Heiterkeit und mußte selbst mitlachen. Erst ein bis zwei Jahre später konstatierten wir dann alle mit Staunen, daß es doch kein Unsinn gewesen.
Sándor war als etwas „reiferer Jahrgang“ im Hinterlande eingerückt und in unserer Nähe tätig. Mein Enkel Vilmos weilte zu Kopenhagen bei der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft, die sich hauptsächlich mit Approvisionierungs- und Assentierungsfragen sowie mit der Überwachung der Spionage zu beschäftigen hatte. Fery Khevenhüller befand sich beim freiwilligen Autokorps und sauste von einer Front zur anderen. Sein Bruder Duly kam erst gegen Ende des Völkerringens ins militärpflichtige Alter. Alle übrigen Enkel aber waren, gottlob!, noch zu jung, um sich den Gefahren des Krieges aussetzen zu müssen.
Die unteren Räume des Véper Schlosses wurden als Rotes Kreuz-Spital eingerichtet, und Lisa pflegte dort mit großer Hingebung ihre Verwundeten. Imre war Präsident und Irma Präsidentin des Roten Kreuzes im Neutra-Komitate. Sie hatten am großen Zweigbahnhofe von Lipótvár einen Verbandplatz für durchreisende Verwundete geschaffen, der sich besonders in den ersten Phasen des Weltkrieges, welcher damals auf den westlichen Karpathen tobte, sehr segensreich erwies. Mit besonderer Liebe und Begeisterung widmete sich Enkelin Jella, Imres jüngste Tochter, der Verwundeten pflege. Ja, sie fand in diesem Wirkungskreise eine solche Befriedigung, daß sie schon 1915, also noch während des Krieges, trotz der Bitten ihrer Eltern, es sich doch noch reiflich zu überlegen, beschloß, in den Orden der Barmherzigen Schwestern zu Buda pest einzutreten. Leider war aber die Gesundheit des armen Kindes doch keine so gefestigte, daß sie dem strengen Dienste mit allen seinen Mühen und Entbehrungen gewachsen gewesen wäre. Sie erkrankte an Lungentuberkulose und entschlief am 11. August 1916. Oh, wie ist Gottes weiser Ratschluß zu preisen! In der Kommunistenzeit soll gerade jenes Kloster, in dem unsere arme Jella gelebt und gewirkt hatte, von dem entfesselten Mob gestürmt und die meisten dieser armen, wohltätigen Schwestern in den Kellern des Parlamentsgebäudes auf bestialische Weise zu Tode gemartert worden sein!
Die unserem Vép benachbarte Burg Sárvár, ehedem Besitz und dann lebenslänglicher Internierungsort der schönen „Blutgräfin“ Báthory – die zur Renaissancezeit, um die Feinheit ihres Teints zu bewahren, im Blute leibeigener Mädchen Bäder genommen hatte – war nachmals Eigentum des Hauses Modena, und nun, als modenensisches Erbe, der Königin Maria Therese von Bayern rechtmäßig zugefallen. Alle Jahre beherbergte es zur Herbst- und Jagdzeit König Ludwig III., der dann auch alljährlich ein treuer Stammgast der großen Véper Jagden gewesen ist. Selbst im Kriege besuchte uns Seine Majestät zweimal, das letztemal kurz vor dem Umsturze in Begleitung der Königin und mit den königlichen Töchtern.
An dieser Stelle möchte ich noch einigen meiner Lieben in treuem Gedenken ein Totenopfer darbringen, einigen jener Glücklichen, die es entweder überhaupt nicht mehr erlebten, daß sich die Kinder Gottes in sinnloser Wut zerfleischten und mordeten oder deren Augen wenigstens nicht mehr das besiegte, zerstückelte, verarmte Vaterland zu erschauen brauchten, wie es dieser unglückselige Krieg zurückgelassen.
Schon einige Jahre vor dem großen Völkerringen schloß meine liebe Schwester Thesy die Augen für immer. Sie starb am 10. April 1910 zu Regensburg, nur 14 Monate nach ihrem Gatten, Theodor Baron Junker, der am 7. Februar 1909 verschieden.
Als Opfer des Krieges selbst hatte ich in meiner nächsten Verwandtschaft Hansi Hardegg, den Mann meiner Enkelin Ilona, zu beklagen, der gleich zu Kriegs beginn als gewesener aktiver Offizier eingerückt war und vorerst dem Stabe des bekannten Kavalleriegenerals Brudermann, sodann verschiedenen anderen militärischen Dienstleistungen zugeteilt, die ganze Zeit, bis auf wenige Urlaubstage im Felde verbrachte. Dort holte er sich auch den Keim zu seiner Todeskrankheit, da er in kürzester Zeit mehrere schwere Kriegsseuchen, wie Dysentrie und Ruhr, letztere sogar einige Male, durchzumachen hatte, seine Konstitution aber auf die Dauer diesen schweren und dauernden Erschütterungen nicht gewachsen gewesen. Am 30. Dezember 1917 starb er im 42. Lebensjahre den Tod für sein Vaterland. An seiner Bahre weinten eine trostlose Witwe und zwei im zartesten Alter stehende Söhne.
Auch meine liebe Schwester Emma, die ich von allen meinen Geschwistern am meisten um mich sah, da sie während ihrer ganzen langjährigen Hofdienstzeit stets die Urlaubswochen bei mir zu verleben pflegte, und auch nach ihrem Scheiden aus demselben noch alljährlich bis 1914 nach Somlóvár und Galgócz kam, sollte nicht das Ende des Weltkrieges erleben. Die Nachricht
von ihrem am 5. Mai 1918 erfolgten Hinscheiden traf mich besonders schwer und ich konnte mich noch lange nicht in den Gedanken finden, diesen lieben, treuen Gast unseres Hauses auf immer entbehren zu müssen.
Das Jahr 1918 sollte mir aber noch eine schmerzhafte Wunde schlagen. Am 7. November verschied zu Wien mein teuerer Sohn Tamás, uns allen zum größten Schmerze, obwohl der Tod für ihn nur eine Erlösung nach einem schweren, langjährigen Leiden bedeutete.
Bald hätte ich an dieser Stelle von einem großen Unheil zu berichten vergessen, das mich selbst am 28. April 1917 betroffen und das mir die Bewegungsfreiheit, deren ich mich bis dahin erfreut, sehr ein schränkte. Ich war es gewöhnt, jeden Nachmittag eine längere Promenade im Schloßparke zu unternehmen, auf welcher mich stets zwei große, junge Hunde zu begleiten pflegten, die mich schon immer vor dem Schlosse erwarteten und mich dabei mit lebhafter Freude begrüßten. Eines schönen Tages fiel aber diese Begrüßung doch etwas allzu stürmisch und kräftig aus. Ich stürzte nieder und brach mir den Schenkelhals des rechten Hüftgelenkes. Hilflos lag ich am Boden, nicht imstande, mich zu erheben, bis endlich nach langem, vergeblichem Rufen und Warten Sukkurs erschien und man mich ins Haus transportierte.
Quelle: Gräfin Helene Erdődy: Fast hundert Jahre Lebenserinnerungen (1831-1925). Zürich, Leipzig, Wien: Amalthea-Verlag 1929, 196-205.