Himmelkreuzdonnerwetter!
- Autor*in: Ernő Szép
- Entstehungsjahr: 1945
- Originalsprachen: Deutsch
- Gattung: Roman
Übersetzung
Ernő Szép: Himmelkreuzdonnerwetter!
(Ausschnitt aus dem Tagebuchroman „Drei Wochen in 1944“)
Mit einem Wort, wir marschierten am 20. Oktober aus dem Hause.
Es überraschte uns ein wenig, daß man uns nicht über den Stefansring führte, sondern gegen Újpest. Vorne schritten der Polizeimann und der Gefreite, die übrigen zu unseren Seiten, zwei rechts und zwei links. Wir marschierten in schöner Ordnung, bemühten uns wenigstens dies zu tun, aber unsere Treiber begannen sofort von rechts und links zu schreien:
„Aufschließen, gnädige Herren!“
„Etwas flinker dort hinten, Himmelkreuzdonnerwetter!“ (Die Stimme gehörte dem jungen Burschen.)
„Kopf hoch, alter Samuel!“
„Aufschließen, he, diese Reihe bleibt wieder zurück!“
Sie beobachteten uns ununterbrochen.
Auf den beiden Gehsteigen oder auf der Straße drehten sich die Passanten um und schauten auch aus der Straßenbahn heraus. Ein, zwei Frauen erhoben sich sogar von ihren Sitzen, damit sie auch unsere Schuhe sehen. Ein Fuhrmann, er führte Säcke, lachte uns laut ins Gesicht und zwischen jenen, die auf dem Gehsteig stehen blieben, fanden sich ebenfalls ein, zwei Leute, die den Zug mit zufriedenem Lächeln musterten. Die meisten jedoch warfen uns gerade nur einen Blick zu und gingen weiter. Sie hatten sicher andere Sorgen als uns Juden.
„Was ist dort los, Sie bleiben wieder im Hintertreffen, wie das Trinkgeld!“
„Wie eine Schweineherde, wie eine Schweineherde!“
„Richtung halten in dieser Reihe!“
„Vorwärts, vorwärts, Herr Hatschek, schlurfen Sie nicht!“
„Aufschließen, Himmelkreuzdonnerwetter, der Schlag soll diese dreckige Judenbande treffen. Gib acht, sonst komme ich hin!“
So munterten sie uns alle zwei Minuten von rechts und links in dieser Weise auf, solange der Weg dauerte. Wir umgingen die neue Leopoldstadt und kamen auf den Lehelplatz. Von dort gelangten wir in die Arenastraße. Dann gingen wir bis zur Thökölystraße weiter und mussten dort an der Ecke halten, weil eine Kolonne deutscher Riesenpanzer, die mit gelben und grünen Flecken getarnt waren, vom Ostbahnhof heran donnerte und rasselte. Einige eingezwängte Fußgänger beobachteten die Panzerkolonne. Auch ein Polizist stand an der Ecke, der sich an einen alten Herrn wandte:
„Wie alt sind Sie, bitte?“
Der alte Herr wagte nicht zu antworten und lächelte ihn nur verwirrt an.
Der Polizist trat zu unserem Soldaten hin, der am nächsten zu ihm stand.
„Hören Sie her. Dieser Mann, dieser da, ist sicher schon über sechzig Jahre alt. Ich habe heute morgen die Verordnung gelesen, die bestimmt, daß die Leute nur bis sechzig Jahren abgeführt werden dürfen. Es sind hier mehrere ältere Männer, warum führen Sie die auch weg?“
Der junge Soldat winkte dem Herrn Inspektor, der zwischen 42 und 44 Jahre alt sein mochte und ein gutmütiges ungarisches Gesicht hatte, mit einer nachlässigen Geste ab.
„Das geht Sie gar nichts an, Sie haben nur auf die Radfahrer zu achten!“
Der Polizeimann blickte dem Jüngling einige Augenblicke fest in die Augen. Ich bemerkte, wie er sich die Lippen nagte. Er entgegnete aber nichts mehr, drehte sich um und ließ die Soldaten stehen.
Zwei, drei Herren über sechzig hatten ihm schon hoffnungsvolle Blicke zugeworfen.
Als der letzte Kampfwagen verschwunden war, zogen wir weiter. Wir marschierten auf der Kerepesistraße und blieben schließlich vor dem Tor des Kisok-Fußballplatzes stehen. Das heißt, wir blieben nicht stehen, sondern man trieb uns hinein.
Der Kisokplatz
Wer es nicht wissen sollte – sowie ich selbst es nicht gewußt habe – ist der Kisokplatz der Sportplatz der Mittelschüler. Er besteht aus einem riesigen ziegelförmigen Fleck, auf dem, weiß der Himmel, wie viele Fußballplätze Platz finden würden. Er ist mit Gras überwuchert, die Studenten lärmen und spielen hier schon seit Jahren nicht mehr.
Ha, welche Menge von Menschen, eine ganze Volksversammlung. Sie standen in Kolonnen der Tribüne zugewandt. Unsere Begleiter führten uns an das Ende der einen Kolonne, ließen uns dort stehen und verabschiedeten sich gar nicht. Es stellte sich heraus, daß diese Kolonne und die zweite rechts von uns stehende Kolonne aus lauter Männern des fünften Bezirkes bestanden. Die Leute waren bezirksweise hierher und dorthin aufgeteilt worden. Ungefähr zwei Drittel des Platzes füllte sich mit Menschen. Vor der Tribüne, mit dem Rücken zur Kolonne, drängte sich ein eigener Haufen. Vor und hinter den Kolonnen, seitlich und überall standen, spazierten Polizisten, Soldaten und Zivilisten mit Pfeilkreuzlerarmbinden herum. Sie hielten die Ordnung aufrecht oder gaben besser gesagt acht, das niemand von hier durchbrenne. Auch beim Tore hielten Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett Wache.
Wie viele Menschen mögen wohl auf diesem Platz sein? Ich habe kein gutes Augenmaß dafür, meiner Schätzung nach können es ebensogut zwanzigtausend wie fünfzigtausend sein. Der eine der in der Nähe stehenden Herren sagt fünfundzwanzigtausend, ein anderer fünfunddreißigtausend, der dritte vierzigtausend und der vierte Herr schätzte diese vielen vielen Menschen auf nicht mehr als zwölftausend. (Dieser Herr hat gewiß eine geizige Seele im Leib.) Ununterbrochen fließen noch neue Abteilungen durch das Tor herein, sowie durch ein anderes Tor, auf dem entgegengesetzten Ende des Platzes. Sie kommen alle vom Ostbahnhof her und bleiben dann am Anfang oder dem Ende einer der Kolonnen kleben.
Was tun wir hier? Wir stehen und stehen. Hier dürfen wir plaudern, ja, sogar rauchen. Links in der dritten Kolonne nahm ich einen lieben Maler wahr. Ich trat auf den freien Streifen zwischen die Kolonnen, hielt meine Hände wie einen Trichter vor den Mund und brüllte hin über: „Fritzi! Fritzi! Fritzi!“ Er hörte mich nicht. Ich wollte zu ihm hinübergehen, aber ein Wächter in Zivilgewand, der vor der benachbarten Kolonne stand, hielt mich zurück:
„Bitte, es ist nicht erlaubt, Besuche abzustatten.“
„Und wenn ich Ihnen eine feine Darlingzigarette anbiete?“
„Auch dann nicht.“
Aber als höflicher Kerl nahm er die Zigarette an.
Übrigens grüßten sich Bekannte, die einander entdeckten, von hier und dort, winkten sich mit erhobenen Händen zu. Einen Augenblick konnte man in ihren Augen ein Lächeln der Freude aufblitzen sehen, dann blickten sie sich ratlos nach allen Seiten um. Meine Nachbarn plauderten darüber, was wohl dort vor der Tribüne vor sich gehe. Es sei eine Musterung, vermuteten die meisten. Dort arbeiten wohl die Ärzte, die die Kranken nach Hause entlassen.
„Ich bin überzeugt, daß man mich entlassen wird, ich habe ja so viel Zucker.“
„Hoffentlich komme ich mit meinem Herzasthma auch los.“
Sonderbarerweise sieht man in der Menge vor der Tribüne gar keine Bewegung. Ich sehe keinen einzigen Menschen, der von dort zurückkäme.
„Vielleicht sind die Ärzte noch nicht hier.“
„Es findet keine Musterung statt, bitte. Sie sehen ja, daß man jeden Augenblick eine neue Abteilung hereinführt. Man teilt wahrscheinlich die Kolonnen ein, instradiert sie oder dergleichen.“
Wir werden ja sehen. Einige Herren klauben für alle Fälle ärztliche Zeugnisse und Rezepte aus ihren Brieftaschen hervor.
Meine Uhr kommt mir in den Sinn, ich habe sie aufzuziehen vergessen, was ich sonst um neun Uhr zu tun pflege. Ich finde sie aber nicht und muß sie daheim vergessen haben. Zum Teufel hinein, ich bin seit meinen reiferen Studentenjahren nie ohne Uhr herumgegangen, jene Fälle ausgenommen, wenn ich sie in meiner Jugend im Versatzamt liegen hatte.
Wie viel Uhr ist es denn? Halb zehn. Wir sind um neun angekommen. Wie lange werden wir hier wohl warten müssen und worauf?
Einzelne Abteilungen marschierten vor die Tribüne, andere kamen aus der entgegengesetzten Richtung. Auch von den Toren strömten immer wieder neue herein, schlüpften da und dort durch die Kolonnen. Diese Bewegungen erweckten den gleichen Eindruck, als wenn von einem Sturm getrieben Wolkenfetzen über den Himmel eilen. Es war ein Rätsel, was sich vor der Tribüne abspielte, das wir umsonst zu lösen versuchten. Ich nahm wahr, daß sich immer mehr und mehr Männer auf den Rasen niederließen, sie waren müde geworden. Auch von den unsrigen setzten sich einige auf ihre Rucksäcke. Ich blickte dahin und dort hin und entdeckte Köpfe, deren ich mich aus den Restaurants, dem Zuhörerraum der Oper oder den Promenaden erinnere, weil sie mir oft in die Augen gefallen sind. Auch persönliche Bekannte nahm ich einen nach dem anderen in der Ferne wahr: Zeitungsschreiber, Schauspieler, Geldmenschen, Ärzte, Rechtsanwälte, Filmleute, Kellner, Kaufleute, kurzum alle Berufe. Man sah kaum jemanden mit einem anderen plaudern, sie standen wie Pflöcke dort, starrten vor sich hin, wie ich selber, und betrachteten grübelnd den Erdboden. Ich hätte dieser ungeheuren Menschenmenge gewünscht, dass sie sich in eine Schafherde verwandle, sich auf alle vier niederlasse und zu weiden beginne. Das Schaf kann von früh bis abends fressen und braucht nicht zu denken.
Die Langeweile bringt mich um. Ich habe nichts zum Lesen mitgenommen. Der Gedanke, mich schlafen zu legen, flitzt mir durch den Kopf. Ich nehme den Rucksack herunter, lege meine Decke darauf und nun: „Gute Nacht.“ Aber es gelingt mir nicht einzuschlafen. Man brüllt da und dort, eine Lokomotive schrillt, die Straßenbahn jault, und der Reifen eines Lastwagens platzt mit einer fürchterlichen Detonation. So betrachte ich also den Himmel. Es ist keine Wolke zu sehen, und es dünkt mich, das Meer vor mir zu haben. Plötzlich beginnt man um mich herum zu schreien, und überall entsteht eine Bewegung. Es stellt sich heraus, daß man die Sechzigjährigen zusammentreibt. Nun endlich. Ich bin erst kürzlich sechzig Jahre alt geworden. Selbst der Gedanke daran ist schrecklich. Das heißt, es ist nur schrecklich, daran zu denken, denn in Wirklichkeit merkt man keinen Unterschied zwischen gestern und heute, ja ich fühle mich nicht im geringsten anders als mit dreißig Jahren.
Auch die Herren aus der Preßburgerstraße lüpfen ihre Rucksäcke, sie sind fast alle über sechzig. Wer unter uns jünger ist, der mochte deswegen daheim geblieben sein, weil er Kriegsinvalide ist, gegenrevolutionäre Verdienste hat oder Besitzer eines Kriegsbetriebes ist. Freilich sind auch diese Männer felsenfest überzeugt, daß man sie nirgendwohin verschleppt, sie haben ja Papiere bei sich.
Wir Sechzigjährigen müssen vor die Tribüne marschieren. Am Rand unserer Kolonne steht ein lieber, guter Kamerad, Laci Reiter, ein Graphiker, der nur sieben oder achtundvierzig Jahre alt ist. Er war viel in Paris, verbrachte oft halbe Jahre dort und saß, seine Zigarre schmauchend, Nächte lang vor dem Café Dôme. Er lauschte den Worten der halbverrückten Künstler dieses Cafés, schwieg auch, wenn er zufällig mit einer Frau dort saß und qualmte. (Ich habe ihn auf diesem Kisokplatz zum letzten Mal gesehen, er kam bis jetzt – wir sind im Juli – nicht heim.) Als ich mich von Laci verabschiedete, war meine Abteilung aus der Preßburgerstraße verschwunden. Ich drängte mich in die Menge vor, die sich bei der Tribüne staute. Die Leute stießen mich zurück. Als ich mich hindurchgekämpft hatte, geriet ich in eine zweite Menschenmenge. Dort klärten mich einige geduldigere Herren auf, es sei keine Rede davon, daß die Sechzigjährigen zu der Tribüne müßten, es sei nur ein falscher Alarm gewesen. So, nun hieß es wieder zurückgehen. Ich quälte mich von neuem durch diesen Menschenwald und trachtete dorthin zu gelangen, woher ich gestartet war. Aber ich wußte nicht mehr, wo dies war, lief von einer Kolonne zu der anderen und fragte, wo die Leute aus der Preßburgerstraße seien.
„Wir sind, bitte, vom zweiten Bezirk.“
„Was suchen Sie hier, das ist der achte Bezirk.“
Noch dazu fuhr mich jeden Augenblick ein Soldat oder ein Zivilwächter an, ich solle nicht herumstrolchen und mich auf meinen Platz scheren. So irrte ich etwa eine halbe Stunde herum, bis ich plötzlich auf einem Rasenstreifen zwischen zwei Kolonnen ein flatterndes, weißes Taschentuch erblickte. Herr Direktor V. winkte mir damit von weitem zu, er mußte großartige Augengläser haben, daß er mich wahrgenommen hatte. Dort standen meine Kameraden wieder auf ihrem Platz. Ich eilte also hin. Unterwegs bedrohte mich ein Jüngling mit Armstreifen mit seinem Ochsenziemer. Ich war fürchterlich müde und kauerte mich sogleich auf meinen Rucksack nieder.
Ungefähr die Hälfte der Menschenmasse saß schon auf dem Rasen herum. Viele schlummerten, andere wieder nahmen einen Imbiß zu sich. Wir saßen oder standen. Es wurde gleich halb zwölf. Was wird hier endlich geschehen, man mußte ja von dieser Ungewißheit wahnsinnig werden. Wieder entdeckte ich in der Ferne einen bekannten Orchesterdirigenten und einen Bankdirektor, der immer wie ein Kavalier aussah. Er hatte auch jetzt Knickerbocker und dunkelrote Schuhe mit heraushängender Zunge an, stützte sich auf einen Touristenstock und starrte auf seine Schuhe. Er war sehr exklusiv veranlagt, wie wird sich der mit diesen zusammengewürfelten Leuten vertragen, wenn man uns verschleppen sollte? Man mußte jeden Augenblick irgendeinen anderen bedauern.
Gegen zwölf Uhr wußten wir schon, daß keine Rede von einer ärztlichen Untersuchung sei. Die Nachrichten wurden von Kolonne zu Kolonne weitergegeben. Es würden alle, die hier versammelt seien, verschleppt, man teile von der Tribüne die Abteilungen nur auf und ordne an, wohin diese und wohin jene zu gehen haben. Der arme Herr T. neben mir war so durstig, daß er sagte, er gäbe gerne einen Zehner um ein Glas Wasser. Es begann sehr heiß zu werden, als ob es Sommer gewesen wäre. Die Herren aus der Preßburgerstraße gähnten, und ich bemerkte auch bei der Abteilung, die vom Stephansring gekommen war, sowie rechts und links von mir jeden Augenblick offene Münder. Dieses Warten bedeutete eine unbeschreibliche Langeweile. Ich wunderte mich, daß ich vor Verzweiflung nicht aufschrie, dass ich nicht blindlings davonlief, wie es manchmal ein Stier auf der Pußta tut. Sie ließen uns nur deshalb warten, einzig allein deswegen, weil sie uns toll machen wollten. Die geheimnisvolle Kommission vor der Tribüne oder was sie sonst war, dünkte mich wie eine Reinhardtsche Regie, die unsichtbar blieb, uns verurteilte, in deren Händen unser Schicksal lag. Alle starrten in jene Richtung, unserem Schicksal entgegen.
Um ein Uhr kamen dann einige Burschen mit der Pfeilkreuzlerbinde von der Tribüne her, gingen die Kolonnen entlang und riefen den Leuten zu:
„Jene, die das sechzigste Jahr vollendet haben, vergattern sich längs des Zaunes“, und zeigten hinter sich der Kerepesistraße zu.
Nun atmeten die Sechzigjährigen der Preßburgerstraße auf. Von überall war ein heiteres Geschwirre zu hören.
Sie vergatterten sich, weil sie bemerkten, daß auch von den anderen Kolonnen kleine Abteilungen geschlossen abrückten. Andere geschlossene Gruppen aus dem fünften Bezirk hängten sich uns an. Auf dem kurzen, nur wenige Minuten dauernden Weg bis zum Zaun plauderten die Herren in versöhnlichem Tonfall.
„Diese Pfeilkreuzler haben Glück, gerade fing mir an, die Geduld auszugehen.“
„Wir kommen gerade zum Mittagessen heim, Ei, werde ich heute einhauen!“
„Ich habe ja gesagt, daß nichts daraus wird.“ Es war Herr B.
Jener Polizeimann hatte doch recht, was die Männer über sechzig anbelangte. Sie hatten diese alten Leute nur aus reiner Bosheit aus den Häusern mitgenommen. Hier auf dem Kisokplatz stellte es sich dann heraus, daß man auch aus vielen anderen Häusern die Leute ohne Rücksicht auf ihr Alter zusammengetrieben hatte.
Drüben, neben dem Zaun, formierte sich eine lange, lange Kolonne aus Männern, die sich in Viererreihen aufstellten. Vorne und hinten schlossen sich zwölf Wächter an. Wir standen dem Tore zugewendet und warteten. Wir warteten schon eine Viertelstunde. Dann kam ein Zivilist in Stiefeln und gelbem Ledergewand mit einer Armbinde zu uns her. Er trug einen Chaplin-, das heißt Adolf-Schnurrbart, hielt einen Ochsenziemer in der Faust und formte aus seinen Händen einen Laut sprecher:
„Wer sein sechzigstes Lebensjahr vollendet hat, nehme seinen Meldezettel hervor!“
Jeder griff in seine Brusttasche.
Herr T. und Direktor V., die beiden Armen, blieben auf dem Rasen stehen, sie waren noch unter sechzig.
Der Herr Postrat K., der zweiundsiebzig Jahre alt war, fiel wie ein verwelktes Baumblättchen zu Boden, er konnte nicht mehr auf seinen Füßen stehen.
Der Mann im Lederwams trat näher heran und sprach zu ihm hinunter:
„Nu, Tate, Süßer, was ist los? Schwach auf der Brust?“
Der Herr Rat antwortete nicht, seine kleinen, blauen Augen starrten unverwandt auf die mächtige Revolvertasche des Mannes, der nun im gemütlichen Tone fragte:
„Und was macht Mame, die Süße? Ha? Hören Sie mich nicht?“
Er ließ den Stock durch die Luft pfeifen und lachte den Rat an.
„Bitte, ich verstehe nicht, was Sie sagen“, lispelte der Herr Rat so aufgeregt, daß sein Kopf und seine beiden Hände zitterten. Wir begannen uns um ihn zu ängstigen.
„Wie sollten Sie mich nicht verstehen, ich spreche doch in Ihrer Muttersprache.“
„Ich verstehe nur ungarisch.“
„Zzz, Gott über die Welt!“ Und er begann das Zittern des Kopfes und der Hände des Herrn Rats nachzuahmen, lachte dazu fröhlich und ließ seinen Blick in die Runde schweifen, als erwartete er, daß wir mit lachten. Dann sah er noch einmal mit heiterer Verachtung zu dem Rat und ließ den neuen, glänzenden Ochsenziemer wieder durch die Luft pfeifen, als zögerte er vor einem Entschluß. Schließlich verdüsterte sich sein Gesicht, er hob den Kopf und schrie den armen Rat an:
Stehen Sie auf!“
Dann drehte er sich um und spazierte ein wenig weiter. Wir hörten gleich wieder seine Stimme:
„He, was tun Sie dort?“
Ein älterer Herr verrichtete, das Gesicht dem Zaun zugekehrt, seine Notdurft.
„Drehen Sie sich um! Wenden Sie sich Ihren Rassegenossen zu! So.“
Und er hieb wieder mit dem Ochsenziemer durch die Luft.
„Verstecken Sie ihn nicht! Fassen Sie ihn von unten an!“
Der eine Herr bemerkte leise zum anderen:
„Siehst du, diesen Menschen könnte ich eigenhändig aufknüpfen. Jemandes Schamgefühl dermaßen zu verletzen!“
Der Lederwams spazierte wieder zu uns zurück und fuchtelte ununterbrochen mit dem Stock herum.
„Stehen Sie gerade! Strammer! Stützen Sie sich nicht auf die Spazierstöcke wie daheim auf den Perserteppichen!“
Er ging weiter. Dann fiel ihm etwas ein:
„Rucksäcke aufnehmen! Eins, zwei!“
Viele hatten die Säcke abgenommen und vor sich gestellt.
Ach, wie gut wäre es gewesen, endlich heimzugehen!
Nun kam ein Zugsführer mit geschultertem Gewehr daher. Sicher war es der Mann, der uns in Marsch setzen sollte. Aber es war keine Rede davon.
„Wer das siebzigste Lebensjahr überschritten hat, der stelle sich hier her, seitlich neben die Abteilung!“
Er ging die lange Kolonne entlang und wiederholte dabei den Aufruf. Aus unserer Gruppe traten zwei Herren aus.
Was sollte das nun wieder bedeuten?
Wir vermuteten, daß man diese Alten wahrscheinlich mit der Straßenbahn heimführen wolle, weil sie einen Marsch nicht mehr ertrügen.
Wir standen noch immer und warteten. Man beratschlagte flüsternd, ob man wohl rauchen dürfe. Jemand aus der Nachbargruppe sah irgendwo einen Zigarettenrauch aufsteigen, worauf sich sofort alle Tabaksdosen öffneten und sie jeder seinem Nachbar anbot: „Bitte, bedienen Sie sich!“
Als man uns hierher gestellt hatte, war der ganze Platz in Bewegung geraten und die Menge schien Wellen zu schlagen. Jeden Augenblick setzte sich zwischen einem Soldatenspalier eine Abteilung in Marsch, die eine ging bei diesem, die andere bei jenem Tor hinaus. Aus jeder Kolonne wandten sich Köpfe zurück und hoben sich Hände, um den zu rückgebliebenen Bekannten Abschied zu winken. Ich nahm den Redakteur Nándor Szűcs wahr, er hatte das eine Auge verbunden, blickte zurück, wollte jemanden grüßen, entdeckte ihn aber nicht.
Nun näherte sich ein Gefreiter. Jetzt wird es ernst, dachten wir uns, es war ja spät genug, gleich zwei Uhr.
„Habt acht! Wirst du gleich die Zigarette wegwerfen, du Schwein! Himmelkreuzdonnerwetter! Ausrichten! Ich will gerade Reihen sehen. Weiter hinein dort. Ihr Stinkratten! Aufschließen!“
Er wartete ein wenig, bis sich Reihe auf Reihe aufschloß und befahl dann:
„Marsch!“
Er eilte voraus und gelangte schon beim Tor an die Spitze der Kolonne. Der Lederwams war vor einigen Minuten verschwunden, wir haben ihn nicht mehr wiedergesehen.
Ja, ich vergaß zu erwähnen, daß der Gefreite auch die Siebzigjährigen wieder auf ihren alten Platz zurückstellen ließ.
Was soll das heißen?
Wir marschierten durch das Tor, nahmen plötzlich wahr, daß die Spitze unserer Kolonne nicht in Richtung des Ostbahnhofes marschierte, sondern längs des Zaunes, der Stadt entgegengesetzt, in die Kerepesistraße einbog.
Welchen dummen Umweg ließ man doch diese übermüdeten Menschen machen!
Rechts und links neben der Kolonne trotteten Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett.
Wir marschierten und marschierten, es gab kein Kehrt-Euch, noch ließ man uns nach links in eine Seitengasse einbiegen. Wir dachten uns nämlich, daß man uns wegen des starken Verkehrs beim Ostbahnhof einen längeren Weg führe. Es ging aber immer nur vorwärts, vorwärts.
Wir begannen uns zu beunruhigen. Man wird uns doch nicht zu guter Letzt anderswohin führen! Die Leute drückten noch ihren Meldezettel in der Hand, auf dem ihr Geburtsdatum vermerkt war. Ein, zwei Reihen hinter uns wagte es jemand und rief dem neben uns schreitenden Soldaten zu:
„Wohin marschieren wir, Herr Soldat? Wären Sie so freundlich es uns zu sagen?“
Nach einem kurzen Nachdenken antwortete dieser:
“Glauben Sie vielleicht, daß ich es weiß?“
Einer von der Preßburgerstraße hatte, als wir noch auf dem Rasen herumgestanden waren, bei der Tribüne gehört, daß man die Leute in die Gegend von Budakeszi, auf den Feriberg und nach Transdanubien auf Arbeit führen wolle.
Wir begannen nun ängstlich flüsternd, damit man uns nicht höre, zu beratschlagen. Was hatte man wohl mit uns vor? Es mußte irgendein Irrtum obwalten, daß man uns wegführte oder wäre es noch immer möglich, daß man uns schließlich nach Budapest zurückwendet? Es gab immer noch einige Herren, die sich dieser wahnwitzigen Hoffnung hingaben. Auch ich gehörte zu diesen. Ich war mit den drei Herren, die in meiner Reihe marschierten, nicht sehr gesprächig. Wir hatten während der Luftangriffe flüchtig im Hof miteinander Bekanntschaft geschlossen. Herr T. und Direktor V., die mit einer anderen Gruppe marschierten, fehlten mir sehr. Auch meinen Bruder hatte man anderswohin geführt. Ich schwieg. Die anderen Herren waren der Meinung, daß sich unsere Lage, wohin immer man uns führen sollte, dort klären und sich die rechtswidrige Verschleppung der über Sechzigjährigen herausstellen müsste. Aber selbst wenn man uns dort behielte, würde man sicher von einem Arzt untersucht und jeder, dem etwas fehlt, heimgeschickt werden. Und welcher Sechzigjährige ist wohl kerngesund? „Besonders ein Jude“, bemerkte leise ein Herr, worauf man ebenso leise lachte. Einige möchten sich sogar einverstanden erklären, daß man uns arbeiten lasse, aber wozu könnte man wohl noch so gebrechliche Menschen verwenden? In meiner Reihe, den Reihen vor und hinter mir, begann man allerlei Mutmaßungen auszuhecken. Der eine glaubte, daß wir nun Geiseln seien, der andere meinte, daß man uns in den Kanzleien der Kasernen beschäftigen wolle. Der dritte war ein wenig pessimistischer veranlagt und sagte, daß man uns in der Landwirtschaft gebrauchen könnte, um Mais zu rebeln, Bohnen oder Erbsen zu enthülsen. Vielleicht müßten wir das Triebrad einer Häckselschneidmaschine drehen oder Federn schleißen. Man könnte dies ja alles eine Weile ertragen, wie lange konnte denn schließlich dieses ganze Theater noch dauern. Bezüglich des Federnschleißens bemerkte jemand, daß er darin eine große Erfahrung habe, weil er in seiner Kindheit dabei seiner Mutter geholfen hatte. Die guten Herren überließen sich allmählich solchen ländlichen Traumgespinsten. Es wäre gar nicht so übel, dachten sie, ein wenig unter dem Volk zu leben, Pferde, Ochsen, Schafe vor sich zu sehen und – so meint der eine – in der freien Luft Speck zu braten, das Fett auf geröstetes Brot tropfen zu lassen und darauf ein paar Schlucke gut gekühlten Wein zu trinken. „Es gibt kein königlicheres Mahl, meine Herren!“ Derselbe Herr antwortete auf die Frage, wo man uns heute wohl einquartieren werde, daß dies sicher in Bauernhäusern geschehen würde.
Wir setzten unseren Marsch in wesentlich besänftigter Stimmung fort, nur der Umstand verdarb uns die Laune, daß die militärische Begleitung bald von rechts, bald von links in unsere Reihen brüllte. Sie verlangten mehr Anschluß, geradere Reihen und lebhaftere Schritte. Es war heiß, manche Herren wischten sich fleißig die Stirnen ab, viele hatten ihre Hüte abgenommen. Wir marschierten auf dem Straßenkörper, natürlich am Rande, aber das eine oder andere Mal mussten wir uns noch weiter nach außen drängen, um großmächtige Lastwagen und Panzer an uns vorbeidonnern zu lassen. Die Chauffeure und Soldaten, gleichviel ob es Ungarn oder Deutsche waren, blickten uns mit gleichgültigen Mienen an. Auch die Fußgänger musterten uns alle. Das eine oder das andere Kind, die eine oder die andere Frau mit Tragkorb blieb auch stehen, ließ die Kolonne an sich vorüberziehen. Man konnte keine einzige Bemerkung hören. Nur zwei Kleinbürgerinnen betrachteten uns lachend und blieben stehen. Ich kann nicht behaupten, daß es ein Lachen des Hasses oder der Schadenfreude war, es war nur kindisch und ungezogen. Sie mochten wahrscheinlich nur darüber lachen, daß wir willenlos waren und man uns wie das liebe Vieh dahintrieb.
Wir marschierten eine Stunde, eine zweite Stunde. Wir gaben uns keine Rechenschaft mehr über die Zeit. Die Gassen waren schon lange zu rückgeblieben. Wie sehr waren wir schon erschöpft gewesen, als wir uns auf den Weg gemacht hatten, und was Wunder, wir marschierten und marschierten noch immer. Man hatte sich sozusagen hineingewöhnt. Aber es begannen sich kleine Unannehmlichkeiten zu zeigen. Der Nachbar rechts von mir sagte, er stürbe für einen Schluck Wasser. Es war ein Großkaufmann. Es schickte sich mit seinem Nachbarn ein paar Worte zu wechseln. Meinem linken Nachbarn machte ein hervorstehender Nagel im Schuh viel zu schaffen, er spürte ihn schon seit dem Morgen, und nun begann ihm die Sohle arg zu schmerzen. In der Reihe vor mir griff einer ununterbrochen nach rückwärts, um seinen schweren Rucksack zu stützen. Die Riemen schnitten ihm in die Schultern, er hatte nur einen Leinenüberzieher an. Rechts und links standen Eisenbahner-Häuschen, einfache, häßliche Villen und halbfertige Häuser, die einstweilen nicht weitergebaut werden konnten, als hätte man sie hingestreut. In manche Gebäude hatten auch hier Bomben eingeschlagen. Auf den Bretterzäunen und Mauern waren grüne Hakenkreuze und der Name Szálasi mit großen Buchstaben aufgemalt. An manchen Zäunen gewahrte man SZÁLASI mit Kreide aufgeschrieben, da und dort mit verkehrten S-Buchstaben. Manche Aufschriften waren schon so verwischt, daß sie bestimmt fünf, sechs Jahre alt sein mochten. Hin und wieder überkam mich die Sehnsucht nach Nikotin, aber es konnte natürlich keine Rede davon sein, dass man rauchen durfte.
Hut und Mütze
Wir gingen und gingen unverdrossen weiter. Meine Nachbarn hatten inzwischen festgestellt, daß wir auf Rákospalota losmarschierten. Dieser Ort war die Richtung, aber kaum das Ziel. Ich zerstreute mich damit, daß ich die Hüte musterte, soweit ich sie vor mir überblicken konnte. Es gab graue Hüte, drappe Hüte. Die meisten waren drapp, denn sie standen seit kurzem in Mode. Manche alte Herren trugen schmalkrempige Hüte, wie man sie auf den Köpfen von Jünglingen sah. Aber es gab auch einige schwarze Hüte, die in dem heißen Oktober sonderbar anmuteten. Auch Mützen nahm ich wahr, augenscheinlich haben diese golfspielende Herren und Touristen aufgesetzt. Sie trugen auch Sportanzüge. O welch feine Stoffmützen und Reisemützen! Ich selbst war einmal auch so ein Affe und habe mir, als ich ins Ausland fuhr, in meiner Jugend eine Reisemütze angeschafft. Es gab aber auch viele andere Mützen vor mir, von billiger Qualität, wie sie von sogenannten kleinen Leuten: Krämern, Handwerkern, Arbeitern, Marktfahrern und auch bettelarmen Bauern getragen wurden. Herr Direktor T. hatte mich einmal damit unterhalten – er hatte bei den Aufräumungsarbeiten auch eine Mütze getragen –, daß er mir vom Mützengewerbe erzählte wie es bei kleinen Betrieben üblich war. Sie kauften Stoff- und Futterabfälle zusammen. Es war ein lebenstüchtiges, geschicktes Gewerbe. Und die Gesellschaft jener, die in Europa und in der ganzen Welt Mützen tragen, ist sehr zahlreich, die Studenten, Soldaten, Eisenbahner, Finanzbeamten, Seeleute, Flieger, Portiere, Diener nicht gerechnet, die alle keinen Hut auf den Kopf setzen. Würde inan eine Volkszählung der Köpfe veranstalten, dann wäre es sicher, daß auf dieser Erde mehr Leute Mützen als Hüte tragen.
Wir sahen unterwegs vierzehn-, fünfzehnjährige Bengels, die auf der Schulter altmodische Gewehre trugen; die Schießprügel waren fast länger als sie. Diese Kerle schossen dann im November und Dezember die Juden haufenweise nieder, die sie nachts an das Donauufer schleppten.
Ich weiß nicht mehr, wieviel Uhr es war, als wir nach Rákospalota gelangten. Die Hauptstraße war schrecklich lang. Ich hatte sie schon manchmal mit dem Auto durchfahren, damals schien sie mir aber nicht dermaßen lang zu sein. Viele Geschäfte, Schuster- und Schneiderwerkstätten, Wäschereien, Backstuben waren geschlossen, sie hatten alle Juden gehört. Fast jedes dritte Haus wies Bombeneinschläge auf. Es ist fürchterlich, daß die Bomben überhaupt keinen Unterschied machen und auch unterwürfige, ebenerdige Häuschen zugrunderichten. Ihr höllisches Niesen wirft Mauern, Türen, Fenster, Betten, Tische, Stühle durcheinander, zerschmettert Teller, Töpfe, Waschgefäße, das ganze Hab und Gut der schwer ringenden Arbeiterschaft. Es war derselbe Anblick wie jener, mit dem uns die Illustration entsetzt hatte, wenn sie Bilder von Pariser Vorstädten nach Luftangriffen brachte.
Die Hitze briet uns, unsere Schuhe waren dermaßen mit Staub bedeckt, als hätte man sie weiß getüncht. Auch begann ich Hunger zu spüren. Es war mir bisher nicht bewußt geworden, daß ich seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Ich erwähne es absichtlich nicht mehr, wie oft man uns unterwegs von beiden Seiten anbrüllte, um uns zum Aufschließen, rascheren Schritten, geraden Reihen zu ermahnen und welche Stilblüten sie diesen soldatischen Aufforderungen hinzufügten. Es war ein Glück, daß keine Damen unter uns waren. Auch hier blickten uns die Leute an, die auf den Gehsteigen vorübergingen. Manche blieben stehen, besonders die Kinder, um die Pilger zu betrachten.
Wann wird man uns wohl eine kleine Rast vergönnen?
Das kam ihnen erst gegen fünf Uhr in den Sinn. Sicher wünschten sich auch schon unsere Begleiter eine Siesta. Sie gestatteten uns eine halbe Stunde. Neben dem Gehsteig zog sich ein schmales Gräbchen dahin. Man konnte sich setzen und die Beine ausstrecken. Viele schlüpften für eine Minute in die Seitengassen zwischen die Ruinen der zerstörten Häuser. Wer sich niedergelassen hatte, packte gleich seinen Proviant und sein Taschenmesser aus. Sie legten sich Speck, Konserven, Hühnerfleisch, Liptauer-Käse, Pogatschen und Obst auf das Papier, das sie sich über die Schenkel breiteten. Weiter ab sah man aber auch Männer, die nur Brot und Apfel oder Brot mit Zwiebelnassen. Die Herren begannen bald zu rauchen. Jemand hatte einen Sprung in die benachbarte Trafik gemacht, brachte einen Haufen Postkarten mit, verteilte sie und nahm von niemandem Geld dafür an. Wir begannen nach Hause zu schreiben, in dem wir die Karten einfach auf den Gehsteig legten. Es wußte jedermann von vornherein, daß diese halbe Stunde vergehen würde wie im Leben jede halbe Stunde vergeht. Und dennoch war es eine bittere Enttäuschung, als man uns aufstehen hieß. Es ging sehr schwer. Ach wie schwer, wie schwer ließ sich dieses Aufrappeln bewerkstelligen! Viele alte Herren fielen vier, fünf Mal zurück, ehe sie auf den Beinen standen. Dann beeilten sich alle, ihre Karten in den Postkasten gleiten zu lassen, den wir in der Nähe entdeckt hatten. Jeder hatte wohl das gleiche geschrieben, daß er sich wohl fühle und man uns auf leichte Arbeit führe.
Ein feister, grosser Mann
Wir setzten uns in Marsch. Als wir kaum zehn Schritte gegangen waren, reichte ein älterer Herr in der dritten Reihe vor mir eine geschriebene Karte einem Mädchen von ungefähr zehn Jahren hinüber, das in der Mitte der Straße stand. Allem Anscheine nach hatte der alte Herr keine Zeit gefunden, zum Postkasten zu gehen.
„Seien Sie so gut, mein liebes Kind…“
In diesem Augenblick sprang vom Rande des gegenüberliegenden Gehsteiges ein feister, großer Mann hinzu – er mochte ungefähr fünfzig Jahre alt gewesen sein – schlug die Karte dem alten Herrn aus der Hand und hieb ihm mit fürchterlicher Kraft und mathematischer Genauigkeit eine Ohrfeige ins Gesicht. (Ich konnte inzwischen auf seinem Zeigefinger einen breiten Silberring wahrnehmen.) Die zuschlagende Handfläche bedeckte des alten Herrn Gesicht so vollkommen, daß man die Ohrfeige als einen Volltreffer bezeichnen mußte. Ich habe Zeit meines Lebens nie eine solche Backpfeife gesehen oder gehört. Drei, vier Herren sprangen hin, um den alten Herrn aufzufangen, der wankte und hinzufallen drohte. Sie fasten ihn von beiden Seiten unter und führten ihn eine gute Weile dermaßen weiter. Der feiste, große Mann blieb noch eine Weile dort stehen und blickte dem alten Herrn nach, aber mit so düsteren Blicken, als hätte der Schmerz, den der alte Herr ertragen mußte, sein eigenes Gesicht betroffen. Ich wandte mich zurück, um mir sein Antlitz zu merken. Vielleicht wird er mir noch einmal im Leben vor die Augen kommen.
Wir trotteten betrübt weiter, niemand ließ ein Wort fallen. Der alte Herr wischte sich immer wieder mit dem Handrücken die Augen aus. Er wagte es nicht, sein Taschentuch hervorzuziehen. Wir mochten ungefähr eine Viertelstunde gegangen sein, als uns die Wachmannschaft wieder zu drangsalieren begann.
„Ihr kriecht wie Läuse dahin. Aufschließen!“
„Seht euch einmal diese krumme Judenreihe an.“
„Sie bleiben schon wieder zurück, Großtate. Ich werde gleich auf dich springen.“
Wir wurden alle von Durst gepeinigt. Während der Rast waren die Soldaten in der Schenke verschwunden, wir aber konnten nicht einmal Wasser trinken.
Wir durchzogen auch die Stadt Újpest.
Ich will lieber nichts weiter über diese Stunden des Marsches berichten, nicht wahr, ich könnte wahrlich mit keinen unterhaltenden Einzelheiten aufwarten. Es war schon tröstlich, einen Radfahrer zu erblicken oder ein Fohlen, das neben einem Wagen dahintänzelte, da und dort ein Huhn, das einen Misthaufen zerhackte und frischgrüne Bäume, die den Eindruck er weckten als seien wir im Mai. Die Soldaten benahmen sich immer ungebärdiger, auch für sie bedeutete der Marsch keine besondere Unterhaltung. Es begann langsam Abend zu werden, aber der Abendstern zeigte sich nicht, nein, denn rundum war der ganze Himmel mit Wolken bedeckt.
1945
Quelle: Budapester Coctail. Literatur, Kunst, Humor 1900 – 1945. Hg. v. Aranka Ugrin und Kálmán Vargha. Budapest: Corvina, 292-306.
Die Rechtsinhaber*innen konnten nach einer sorgfältigen Suche nicht festgestellt und ausfindig gemacht werden.
Ohne Angabe des/der Übersetzers*in