Imre Kenyeres: Literatur und Terror
Auf einer Postkarte habe ich gelesen, dass „die Literaten von heute alle in einer Krise stecken“. Nur so viel steht da, es fehlen die Details. Das Interview, dem ich diesen Satz entnommen habe, ist ansonsten sachlich, als ob es um allgemein bekannte Begebenheiten gehen würde. Dieser eine Satz erregte meine Aufmerksamkeit, weil sein Inhalt tatsächlich allgemein bekannt ist. Die verschiedensten Gruppen von Schriftstellern befinden sich in einer Krise. Dieses Jahr hat uns in sie hineingezwungen. Bis jetzt waren wir froh, mit verbundenen Augen unter Lügen herumzulungern. Jetzt sind wir mitten in der Krise, ohne uns zu regen, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Aus dieser Regungslosigkeit kann sich nichts entwickeln, keine Initiative, kein, sagen wir mal, heroisches Unterfangen zur Überwindung der Krise. (Mein Stift stockt auch oft, wenn ich etwas darüber schreiben will.) Der Mehrheit des heutigen Schrifttums (ich kann auf keinen Fall Literatur schreiben) fehlt in der Regel das ehemals so viel genannte Ziel. Ist nicht das der Grund für die Krise? Krise bedeutet Unsicherheit, Ziellosigkeit. Es gibt kein Werk, die Musen gähnen, und überhaupt: Die Literatur steckt in einer Krise. Es gibt nichts als Wortgeklingel, und jeden Tag lesen wir subtile Ausreden und taktvolles Umschweifen. Kein einziges Wort über Krankheit, über Krise. Aber wir sollten darüber reden, damit wir voll und ganz darauf vorbereitet sind, entweder den Kampf aufzunehmen, oder wenn es möglich ist, sich auszusöhnen. Es sollten Bücher und Studien über die Krise, über unser Leben, unsere Ideen und unsere Entscheidungen geschrieben werden. Aber die Schriftsteller ziehen es vor, zu schweigen und die gedörrten Trauben der Krise zu rebeln. Es gibt keine Grundsatzarbeiten, keine Studien. Stattdessen sind hier nur ein paar Fragmente zu lesen.
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Ungewissheit! Doch worin sind wir ungewiss? Ich glaube, man kann es ohne Umschweife sagen: Wir sind über uns selbst nicht sicher. Wir haben das hochmütige Selbstvertrauen verloren, über das wir noch vor nicht allzu langer Zeit dachten, wir könnten darauf Schlösser bauen.
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Literatur und Leben werden nicht nur im Titel von Studien des letzten Jahrhunderts nebeneinandergestellt, sondern sind in Wirklichkeit auf vielfältige Weise miteinander verwoben. Was für das eine gilt, trifft in den meisten Fällen auch auf das andere zu. Es geht nicht um eine Identität der Ideologie: Ich meine die Identität des Verhaltens. Und wenn es in dem einen unsicher ist, ist es auch in dem anderen unsicher. Aus der Gewissheit der Literatur erwächst die Gewissheit des Lebens; wenn wir den Problemen in der Literatur ausweichen, bleibt uns auch im Leben nichts Anderes als Unsicherheit.
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Im letzten Herbst gab es einen Moment, in dem jeder erkennen konnte, dass sich hinter dem literarischen Kampf eine heimtückische Politik ihr Gift zusammenbraute. Sie hat sich selbst damit vergiftet, aber die Literatur hat sich noch nicht von ihrem Schreck erholt und ringt noch immer nach Atem. Was wird geschehen? Wird das Gespöttel weitergehen? Ob diejenigen, die sowohl oppositionell als auch modern waren, zur Literatur zurückkehren werden, wissen wir nicht. Vielleicht wollen das nicht alle von uns, und dies ist ein weiterer Anlass für „Meinungsverschiedenheiten“. Das wahrhaft demokratische Prinzip des literarischen Talents wird nun von seinen Verteidigern gegen diejenigen durchgesetzt, die sich aus anderen Gründen weigern, ihre Schriftstellerkollegen anzuerkennen. Wir können dieser Frage nicht ausweichen. Und sie ist heute noch genauso politisch aufgeladen wie zu Beginn der Kontroverse.
Die Literatur wurde zum Schweigen gebracht, weil die Politik ihr den Atem geraubt hat, und diese Angst vor der Politik bringt sie immer noch zum Schweigen.
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Ich habe die unanfechtbare Behauptung gehört, dass das ungarische Volk immer in Ruhe und mit Vertrauen abgewartet hat. Aber wem oder was hat er vertraut? Ich werde es Ihnen sagen: dem Wandel der Zeiten. Dass das, was wir für falsch halten, eines Tages enden wird und … ja, das ist die Wahrheit: etwas Anderes beginnen wird, dessen Vergehen wir ebenfalls mit Geduld und Hingabe abwarten. Auf diese Eigenschaft sind wir als nationales Charakteristikum so stolz. Schweigen und Zögern statt Handeln! Ein schöner Stolz. Wir ballen unsere Fäuste über unseren Augen, um uns mit den auf uns zukommenden und zu lösenden Fragen nicht konfrontieren zu müssen. Auch unsere Literatur hält sich mit ängstlicher Klugheit die Hände vor die Augen und wartet darauf, dass die Probleme von sich selbst verschwinden, und lässt diejenigen, die auf ihr Wort warten, ohne intellektuelle Unterstützung zurück. Politik? Können wir diesen Begriff nicht so verwenden, dass er das bedeutet, was wir wollen? Haben die Schriftsteller Angst davor, ihr individuelles Verhalten zum Ausdruck zu bringen, offen Stellung zu beziehen? Aber das Schweigen muss ein Ende haben. Das Wort wird nun wieder eine bessere und größere Möglichkeit. Die einzige literarische Möglichkeit.
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Wie anders sehen ihre schriftstellerischen Aufgaben diejenigen, die vom Ausland heimgekehrt sind. Sie haben in Ländern gelebt, in denen Freiheit kein Traum oder Hirngespinst war, sondern eine Lebensweise. Wie misstrauisch empfangen wir sie. Woher kommt dieses Misstrauen? Richtet es gegen ihre Person oder gegen den Geist, den sie mitgebracht haben? Oder beneiden wir sie insgeheim darum, dass sie ihre Überzeugungen und ihre Auffassung offen kundgeben? Wir sind uns selbst gegenüber ungerecht, wenn wir uns vor der Beantwortung dieser Fragen fernhalten. Sind wir anderer Meinung? Wir sollten versuchen, mit ihnen zu debattieren, ihnen unseren Standpunkt zu erläutern, ihnen die fünfundzwanzig Jahre zu erklären, die wir unter Zwang gelebt haben, anders als sie, mit anderen Werten, anderen Möglichkeiten. Die vom Ausland heimgekehrten Schriftsteller sind alle politisch; ist es nicht seltsam, dass es allesamt Schriftsteller sind, die sich einst für die Auswanderung entschieden haben, anstatt zu buckeln oder die Zähne zusammenzubeißen? Ist es ihr offenes Bekenntnis, das uns von den Problemen fernhält, die sie mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Präsenz aufgeworfen haben? Und doch sollte die Literatur hierzulande ob an ihrer Seite oder gegen sie ihr wahres und ehrliches Gesicht zeigen. Nur so können wir erkennen, woran wir festhalten und was uns wert ist, festgehalten zu werden. Politik und Literatur sind keine sich gegenseitig ausschließenden Begriffe; unsere Gegenwart und unsere Zukunft verlangen eine Synthese beider, eine Versöhnung ihrer dialektischen Gegensätze. Was ist Pflicht? Lassen Sie mich sagen, was wir schon so oft und auf so viele Arten gehört haben: bekennen und sich verpflichten.
Deutsch von Márta Horváth
Kenyeres, Imre: Irodalom és rémület. In: Diárium. Az 1945. év naplója. Budapest. Egyetemi Nyomda 1945, S. 7–13.