Gyula Krúdy: Tagebucheinträge aus rauen Zeiten
Sollt ihr dieser Plage mit heiler Haut entkommen, dürfen alle Ungarn die dürren Beine der Heiligen umarmen. Es wird bald die Zeit der Tagebücher kommen, wenn fleißige Hände die heutigen Eintragungen bearbeiten: Da werden wir auf die Steilwand zurückblicken, die wir nur mit Gottvertrauen zu erklimmen wagten. Nirgends ist eine uns wohl gesonnene Stimme zu hören… doch vor einiger Zeit haben unsere Gäste Ungarn und Pest so hoch gelobt! Wo sind nun die Herren von Albion, die Grafen von Frankreich, auf deren Freundschaft unsere Adeligen einst so stolz waren? Wo sind nun die ausländischen Gäste, die sich bei etlichen Banketten in Pester Gaststätten sattgegessen haben! Hätte Ungarn wirklich so viel gesündigt, dass es sich des Händedrucks anderer Nationen nicht mehr würdig erweist?
Die Nation befindet sich in ihren kritischsten Stunden allein, denn in schwerer Not, bei Krankheit und Lebensgefahr muss sich jeder selbst helfen.
Die Nation steht verlassen, ohne Freunde, eine Handvoll Leute inmitten der Millionen von Völkern! Sie schleuderte ihr gebrochenes Schwert von sich und stärkte ihre Seele mit einem großen Bittgesuch, als sie sich auf ihren Kreuzweg begab. Die Felder standen schon rundherum in Flammen, der kalte Wind des Todes brauste durch Ungarn, wer bei der Toten wachte, tat kein Auge zu, die Alarmglocke klang rau, und dumpf schnurrte die Lärmtrommel, als sich die Nation zum Handeln entschloss. Sie entzog ihre rechte dem unfreiwillig gewählten Freund, dessen Kraft und Kühnheit sie vier Jahre lang wie einem Wunder vertraute. Auch Hindenburg ist kein Gott. Das historische Schicksal, das verdiente Verhängnis der Geschichte ereilte den deutschen Reiter und steigt nun mürrisch hinter ihn in den Sattel. Die ungarische Nation, mit verbundenen Augen zum Richtplatz geführt, ist im Schatten des Galgens zurückgewichen. Krähen und Raben kreisten ihr bereits um das arme, irregeführte Haupt. Ungarns Zukunft war keinen roten Heller wert. Das Grab ist bereits freigeschaufelt, wo die Nation von üblen Befehlshabern, kopflosen Politikern, schwachen Monarchen mit Haut und Haaren verscharrt wird.
Sollte die ungarische Nation vom historischen Schicksal begnadigt werden, so ist es dem plötzlich wiedergewonnenen Gesichtsinn zu verdanken, wie bei dem Blinden in der Bibel. Plötzlich erwachte die Nation aus ihrem betäubenden Albtraum und fand sich in der langen, blutigen von umhergeisternden Gespenstern und von Hexen zerwühlten Mondnacht in einem Graben des Friedhofs. Vergebens reichte sie die Hand hierhin und dorthin. Das Schlachtfeld war mit starren und leblosen Leichen bedeckt. In kalter Einsamkeit hallten die dumpfen Schritte des Verhängnisses durch Ungarn. Kein Nachfolger weit und breit, den die Kraftvolle, zum Tode Verurteilte beerben könnte. Ein bis zum Himmel reichender Galgen stand am Horizont, an welchem die dem Heldenwahn verfallene Nation ihr Ende finden wird.
Vielleicht ist es am besten, man bleibt allein!
Wir rechtfertigen uns vor dem eigenen Gewissen, wir weinen für uns allein, wenn wir eine Sache irgendwie verfehlen, aber auch die Erlösung haben wir uns selbst zu verdanken. Der mächtige Freund, an dessen Seite wir im Blutbad fast ertrunken sind, liegt schon ausgestreckt, auch sein Schädel war nicht fest genug, um die Erzwand der Geschichte zu durchbrechen. Ungarn, nun mal auf sich gestellt, streckt seine vom Waffentragen verhornte Hand vertrauensvoll dem Gegner entgegen. Es ist keine Schande, einem hundertköpfigen Drachen mit einem Erzkörper im Kampf zu unterliegen. Wir brauchen nicht wie Verspottete vor Scham zu erröten – Ungarn stand, all seine Kräfte, all seine Muskeln und Nerven bis zum Reißen gespannt, vier Jahre lang von der Taille abwärts im Blut, ohne zu kapitulieren, und schließlich verkam und verhungerte es auf dem Feld der Ehre. Aber die historische Gerechtigkeit soll doch nicht erwarten, dass jene Nation, die sich tausend Jahre lang als ehrlich und lebensfähig erwiesen hat, jetzt wegen der Irrtümer alter Politiker und vom Jenseits zurückgekehrter Feldherren endgültig sterben muss. Der Greis, der die erste Kriegserklärung unterzeichnete, ist schon aus jener Schattenwelt entflohen, die er mit einer zittrigen, unsicheren Unterschrift in Blut versenkte. Dem Alten wurde bestimmt Schnaps gegeben, bevor er in dieses Falschspiel verwickelt wurde. Bohrten sich vielleicht Frauennägel ins Fleisch des Alten, wurde er geschlagen oder ausgehungert? Wurde der Tyrann zum Narren gehalten, ist ihm eine Schlinge um den Hals gelegt worden, wurde er eingeschüchtert? … Viele Jahre müssen vergehen, bis jene Verbrechen klar zu Tage treten, welche die Menschheit über vier Jahre in einem erstickenden Morast gehalten haben.
Ich erinnere mich nur daran, dass ich auch an Tagen unserer größten Triumphe leise gesagt habe: Nach dem Krieg vergehen viele Jahre, bis der Name von Hindenburg wieder laut ausgesprochen werden darf.
Die Nation steht mit erhobenem Haupt vor ihrem Verhängnis.
Wir haben gefehlt, gesündigt, haben einen großen Stolperschritt gemacht — wir waren Menschen. Aber unsere Sünde ist doch nicht so groß, dass diese mit Reue und gutem Willen nicht wiedergutgemacht werden könnte. Wir haben mehr Menschen verloren als unsere Gegner, denn wir sind eine kleine Nation und jedes einzelne vergeudete ungarische Leben ist ein immenser Verlust. Unser Land wurde geplündert, unser Glaube und unser Vertrauen ins Leben wurden uns genommen, Bitterkeit, Elend, unendliche Armut und Demütigung wurden uns aufgezwungen, der Krieg hat uns Hab und Gut geraubt, alles ist verloren gegangen, nur unser Leben nicht. Nun klammern wir uns an dieses Leben, um nach getaner Buße wieder aufrecht stehen zu können; um uns von den Macbeth’schen Gewissensungeheuern zu befreien; um etwas von der großen Sünde wiedergutzumachen, die wir gegen die Menschheit begingen.
Die Nation bahnt sich allein und auf sich gestellt einen Weg durch ein undurchdringliches Dickicht.
Aus dem Deutschen von Fanni Nagy
Quelle
Krúdy Gyula: Naplójegyzetek zord időből, in: Magyar tükör. Publicisztikai írások. Hg. Barta András.Budapest, Szépirodalmi Kiadó: 1984.
http://mek.oszk.hu/06300/06384/06384.html