Dezső Keresztury: Vereintes Ungarntum
Der arglose Fremde – das weiß ich aus eigener Erfahrung – bemerkt, selbst wenn er nur ein paar Wochen in Ungarn verbringt, ein merkwürdiges Phänomen, das im Westen kaum zu beobachten ist. Budapest – und was leider einigermaßen dasselbe bedeutet, die ungarische Kultur, die als gleichwertig mit der europäischen empfunden wird – scheint über dem in östlicher Rückständigkeit oder bunter Exotik versunkenen Land zu schweben, wie der Sarg Mohammeds: weder im Himmel noch auf Erden. Dieses Thema ist von vielen und auf unterschiedliche Weise behandelt worden; mehrere Historiker, Ethnologen, Sozialwissenschaftler und viele Publizisten haben sich damit befasst. Wir können ihre Meinungen ungefähr wie folgt zusammenfassen: Die Ungarn, wie auch die anderen osteuropäischen Völker, ließen sich an ihrem heutigen Standort nieder, als die christliche europäische Zivilisation bereits etabliert, stabilisiert und in entwickelten Formen organisiert war. Die sich dem Westen angeschlossenen Jünger-Völker übernahmen diese fertige Hochkultur und unterdrückten mit dem selbstzerstörerischen Eifer der Konvertiten die mitgebrachte alte, organisch nach ihren eigenen Neigungen entwickelte Kultur. Die auf diese Weise entstandene Kluft konnte durch Jahrhunderte nicht überwunden werden; nur einige Genies konnten zwischen Höhe und Tiefe eine Brücke schlagen, aber selbst von den Besten wurden viele von den erfolglosen Bemühungen aufgerieben. Daraus ergibt sich der fragmentarische, unausgewogene Charakter dieser Randkulturen.
Diese Theorie ist natürlich einseitig und entspricht sicher nicht der vollständigen Wahrheit. Aber die Fakten, auf denen sie beruht, sind unbestreitbar. Sie wurden auch von ungarischen Beobachtern wahrgenommen und zu Recht wurde ihnen insbesondere in den letzten Jahrzehnten große Bedeutung beigemessen. Und dass das Thema nicht nur für einige besorgte, kritische Autoren, sondern auch für die breite Öffentlichkeit von Bedeutung ist, zeigen die immer wieder aufflammenden Debatten. „Unsere Hochkultur ist der aus dem Westen mitgebrachte Besitz assimilierter, in ihren Instinkten und Idealen fremder Schichten“, sagen die Befürworter der lautstark verkündeten Volkserneuerung, die in der Verstärkung der ungarischen Volkskultur fast den einzigen Weg zur künftigen Entwicklung sehen. „Die Ungarn werden ihren Rang, ihre führende Rolle aufgeben und wie unbedeutende Nebenfiguren unter den kleinen Nationen des Balkans untergehen, wenn sie sich unter Ablehnung ihrer hochkulturellen Traditionen, mit verbittertem Eigensinn in das unwegsame Dickicht ihrer Volkskultur zurückziehen“, sagen die Anhänger der Gegenpartei. „Westler“ und „Turanisten“, „Hauptstädter“ und „Provinzler“, „Europäer“ und „Eingeborene“, „Doktrinäre“ und „Naturtalente“, „Snobs“ und „Bauern“: Die Auflistung der gegnerischen Parteien dieser Debatte könnte noch weiter fortgesetzt werden.
Diese verhängnisvolle Kluft in unserem geistigen Leben, die so viel edle Energie und Mühe kostete, hat natürlich vor allem gesellschaftliche Gründe, und ihre Ursprünge sind sicherlich in den habituellen Störungen unserer Entwicklung zu suchen. Es besteht aber auch kein Zweifel daran, dass es im Laufe der ungarischen Geschichte mehr als eine Periode gab, in der die Brücke zwischen Höhe und Tiefe bestand und ihre Pfeiler auf Schichten ruhten, die das Gewicht, das auf sie gelegt wurde, tragen konnten. Der lebendige Hintergrund und die Stütze der bedeutendsten Werke unseres nationalen Klassizismus war zum Beispiel jene Schicht des ungarischen Mitteladels, die über genügend Bildung und Intelligenz verfügte, um die besten Geister der Zeit zu ihrem Führer zu wählen, und über genügend moralische und materielle Kraft, um ihren Wurzeln, ihrem Land und ihrem Volk nahe zu bleiben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war diese Schicht fast vollständig verschwunden und hatte ihren Einfluss und ihre Rolle mehr und mehr an das langsam wachsende Bürgertum abgegeben. Die Pfeiler der Brücke mussten von der neu entstehenden Klasse übernommen werden. Und sie hielt sie so lange wie möglich. Wir wissen, wie schwerfällig und wie kurz. Beim Zusammenbruch stürzte auch die Brücke ein, und der Friedensvertrag und die darauffolgenden Ereignisse haben sichergestellt, dass sie nicht wieder aufgebaut werden konnte. Die wertvollsten unserer Städte, die reichsten und wohlhabendsten Brutstätten des neuen ungarischen Bürgertums, gerieten unter fremde Herrschaft; in dem verstümmelten Land, so schien es, blieben nur eine an Elefantiasis leidende internationale Hauptstadt und ein verödendes, barbarisches Bauerland übrig. Dies ist nicht zuletzt der Grund für die inneren Widersprüche, Entwicklungsstörungen, Anstrengungen und Rückschläge der beiden Nachkriegsjahrzehnte. In deren Zeichen ertönten die Hörner der Sturmtruppen, die das „unberührte Land“ in den Kampf gegen die „kriminelle Hauptstadt“ führten, in diesem Sinne gab der verstorbene Kunó Klebelsberg die Parole der Dezentralisierung aus, und versuchten die Dorfforscher, die Aufmerksamkeit des Landes auf die schrecklichen Folgen dieser Entwicklung zu lenken. Die Ergebnisse sind hinlänglich bekannt: Es gibt heute keinen denkenden Menschen im Lande, der die dringende Notwendigkeit des Wiederaufbaus der eingestürzten Brücke bezweifelt. In der Praxis handelt es sich jedoch um unvollendete Initiativen, um Detaillösungen und um ein quälendes Gefühl der Unzulänglichkeit.
Die zurückerhaltenen Gebiete – das haben wir am meisten gehört – bringen die Idee einer Völkergemeinschaft, die soziale und kulturelle Klüfte überbrückt und alle wahren ungarischen Werte vorbehaltlos integriert, als Geschenk nach den Jahren der Gefangenschaft, sie bringen es den Ungarn des Restlandes, das voller sozialer, wirtschaftlicher und intellektueller Lücken ist. Leider wurden die verschönerten und idealisierten Darstellungen der sozialen Wirklichkeit sehr oft von der Realität widerlegt, und wir haben aus zahlreichen Beispielen in der Geschichte gelernt, dass ehemalige Freiheitskämpfer oft die entschlossensten Verfechter des Absolutismus werden. Aber wir wissen auch, dass wir mit dem Rückerhalt von Gebieten auch eine ganze Reihe unserer großen, lebendigen, historischen Mittelstädte zurückgewonnen haben. Zentren der Bildung, die jahrhundertelang in der Lage waren, die Regionen, aus dem sie hervorgingen, zu führen, und die Menschen, die sich auf den gefährlichen Weg zu einer höheren Kultur machten, zu erziehen. Wir wissen noch nicht, inwieweit der Charakter, die Bildungs- und Vorstellungskraft, die Autonomie und die geistige Unabhängigkeit dieser Städte durch die dunklen Jahrzehnte der Vergangenheit beeinträchtigt worden sind. Auf jeden Fall erwartet sie eine ihrer großen und schönen Vergangenheit würdige Rolle in einem Ungarn, das vielleicht noch erneuert wird. Die Aufgabe ist klar und einfach, und nur über die Details kann und sollte man diskutieren. Die Städte der zurückerhaltenen Gebiete müssen der Hauptstadt und dem Land helfen, Höhe und Tiefe organisch miteinander zu verbinden. Im Kampf für die ungarische Nation als Ganzes könnte dies ihre schönste Berufung sein. Es ist eine Aufgabe und eine Rolle, die ihrer größten Anstrengungen würdig ist.
Deutsch von Márta Horváth
Keresztury Dezső: Egységes magyarság. In: Nyugat, 1940, Heft 11, S. 487.