Die Pflaumenbäume am Straßenrand wirken schwarz, als wären sie mit Ruß bedeckt. Die Täler kommen hier von vielen Seiten zusammen. Oben von Bodová, unten von Lúčky und Jahodná. Wie eine riesige Pilgerfahrt strömt es von überall her. Der Strom der Menschen fließt in Richtung Stadt, Klenov. Ein schlanker Barockturm überragt seine Dachsparren. Es erhebt sich über dem Fluss Bystrá recht malerisch aus dem dunklen Grund der sich ausbreitenden Hügel. Der höchste von ihnen ist der Sivý vrch, gegenüber von Vysoká. Er blickt weit über den Kurort Teplany hinaus, am Rande dreier alter Burgen – Matúšov, Zubrov und Bašta.
„Und glaubt mir, Leute“, überlegt der eine oder andere Bauer, „heute wird etwas los sein!“
„Schon möglich. Unsere Ganslová hält mich auf der Straße an – ‚geh nicht hin, Martinko, geh nicht hin‘“, hustet der Wirt Plavčo. Sicherlich kratzt Schmalz im Hals. ‚Geh nicht hin! Hör zu – ich habe schlecht geträumt!‘ Aber ich gehe doch, sage ich.“
„Was könnte bloß los sein?“, spuckt der alte Jano Bolvan aus Jahodná. Er ist schon Witwer und fast siebzig, aber kein Bursche würde mit ihm mithalten. So flink läuft er davon.
„Man sagt, die Juden machen sich bereit! Ganslová, die weiß alles“, verbirgt der müde Činčurák von unterhalb von Studienka seinen Blick unter dem breiten Hut.
„Hosa-Iva weiß mehr!“ Meister Vrúblik dehnt die Worte wie einen Gummi. Man sieht ihm an, dass er gerne trinkt. Er fährt sich mit seiner fettigen Hand durch den ungepflegten weißen Bart. „Ja, die weiß schon Bescheid. Sie ging trotzdem!“
„Wäre sie nur gegangen!“
„Beim Christus, sie ist gegangen…“ platzt plötzlich Beta Gabajech, ein mutiges Fräulein um die dreißig, heraus. „Ich habe sie beim oberen Pfarrhaus gesehen. Sie ist irgendwo unterhalb von Sady Wurzeln sammeln gelaufen.“
„Was sollte sie in der Stadt tun? Das ist nichts für sie“, macht die Augen Malek aus Svíbové. „Auch nicht für Pfarrer und Lehrer. Du aber, armer Bauer, wickelst deinen mageren Hals in ein geflecktes Tuch und gehst am Sonntag in die Kirche, und was kannst du am Montag Klügeres tun, als in die Stadt zu gehen?“
[…]
Die Bauern strömen in Scharen herbei. Hauptsächlich Frauen. Wie Gänse. Die Čreničer auf Holzwagen stürmen an ihnen vorbei. Die haben es gut. Sie haben Getreide und damit lässt sich heute Geld verdienen. Sie bringen es heimlich nach Šib und darüber hinaus. Ihre Pferde, schwere Noriker, bäumen sich wie Löwen.
„Hohó, Potočný, Čereň, Spica, Jesenák, Ženžula… hoó!“, hört man Rufe von der Straße.
Die Pferde bleiben stehen. Menschen klettern auf die Wagen. Die Wirte lachen. Sie beißen an Zigarren, dass es knackt. Runde Hütchen, weiße Blusen, blaue Leibchen – sie achten noch darauf.
„Kommt her, Frauen, kommt her!“, scherzt Čereň. Ein fröhliches, gebräuntes, intelligentes Gesicht. „Wir verkaufen euch in der Stadt, wenn euch jemand kauft!“
„Wenn es wenigstens Rübe wäre!“, presst Potočný die Lippen zusammen, nachdem er den Stummel seiner Zigarre weggeworfen hat, „hü!“
„Denen gehört die Welt!“, sagt Ondrej Strunka und hebt eine Zigarrenkippe aus dem Schlamm. Er ist abgemagert, schäbig. Man hat ihn aus der Armee entlassen. Er kann auf einem Auge nicht gut sehen. „Die leben gutes Leben!“
„Der Krieg hat sie vorwärtsgebracht“, zuckt der ernste Wirt, der rechtschaffene Martin Pokryváč, mit den Schultern, als ob es nicht anders sein könnte. „Ohne den Krieg hätten sie nichts! Sie könnten nicht einmal ihre Schulden abzahlen. Aber sie sind – wie der Jude sagt – chuzpe…“
„Sie halten sehr viel von sich selbst. Und es kann anders kommen.“
„Wie?“
„Eben wie in Russland“, mischt sich Župica ein. „Die Reichen können plötzlich arm sein, und die Armen – reich.“
„So ist es“, stimmt Strunka zu.
„Wer hat es euch so aufgeschlüsselt? Wart ihr dort?
„Aber andere waren“ schreckt der Eisenarbeiter nicht zurück.
„Siehst du, Adam, du bist auch chuzpe!“ rügt ihn Pokryváč. „Du lässt dir nichts sagen.“
[…]
„Aber was wird es in der Stadt sein? Man sagt, dass die Juden sich bereit machen.“
„Bloß nicht, dass so viele Leute sie anschnauzen!“ wirft der starke Juro Venduš aus den Bergen von Bodov ihnen seinen scharfen und blutunterlaufenen Blick zu. Ein Reservist, der auch erst gestern aus Matúšov kam. „Haben wir über den Schnaps verfügt oder sie? Verstecken wir Zucker und Kerosin? Haben wir mit dem Gut Wucher getrieben?“
„Sie haben uns genug ausgebeutet“ brummen die Bauern.
[…]
In Klenovo fließen die Haufen wie Flüsse ins Meer. Die Wagen lassen sich kaum bewegen. Die Straßen und der Markt sind überfüllt. An einigen Dächern hängen Nationalflaggen. Die weißen Zelten strahlen. Pfeifen, Trompeten, Höllenlärm, Getümmel. Frauen mit Butter, Eiern und Geflügel in Körben. […] Überall wie im Ameisenhaufen. An vielen Stellen ist es unmöglich, sich hindurchzuzwängen. Die Soldaten gehen nach Hause. Sie gehen auf dem Markt herum. Sie gehen in die Kneipen hinein. Sie suchen nach den Ihren.
[…]
„Was quetscht ihr da wie Kühe?“ ertönt plötzlich eine raue Stimme aus dem Getümmel. „Wir müssen hier für Ordnung sorgen!“ sagt der Stuhlrichter Becsvári zu den Gendarmen mit Hahnenfedern an den Hüten. Bislang hat er mit dem alten, korpulenten Kertzer, dem Gutsbesitzer aus Lúčky und Bašta, geplaudert, als wäre nichts geschehen. Dessen Sohn, Edo Kertzer, ein glatt rasierter Schick, ansonsten ein fertiger Ingenieur, hält eine unruhige Dogge an der Kette und beobachtet das Getümmel um sich herum. Vor der Apotheke steht Srdovan mit mehreren Herren. Als er Edo bemerkt, grüßt er ihn.
„Das Eis ist gebrochen. Das Volk hat in Martin[1] gesprochen“ sagt der temperamentvolle Rechtsanwalt Doktor Hôrka mit lauter Stimme. „Čremošný, Škripec und andere sind in Prag[2]. Hier wird eine neue Welt geschaffen. Sie muss nur beherrscht werden. Die Menschen wissen es bereits…“
„Aber es ist auch angespannt. Bis zum Platzen…“
„Na also, ernsthafte Zeiten!“
„Und du, Breda, wo kommst du her?“ Srdovan gesellt sich zum jungen, ziemlich heruntergekommenen Mann. „Du bist doch schwarz wie ein Zigeuner!“
„Ich bin ein Rekonvaleszent.“
„Nun, du wirst nicht mehr zurück gehen müssen. Was wirst du jetzt tun?“
„Mal sehen! Ich werde Banker. Aber – so scheint es mir – wir werden noch gebraucht werden.“
„Wir sind doch da!“
So mancher bleibt stehen und hört zu. Das Gedränge steigert sich. Die Bauern drängen sich vor allem um die Eisenläden.
„Wonach suchst du, Plavčo?
„Ach, ich könnte einen Pflug gebrauchen.“
„Und ich brauche eine Herdplatte…“
Plötzlich ertönt ein Schuss… dann ein zweiter… ein dritter…
„Jesus, es wird schlimm!“ erinnert sich Plavčo an Frau Ganslová.
„Um Himmels willen, rettet euch, Leute! Sie werden uns umbringen… Sie schießen aus dem Fenster… Aus dem Gasthaus dort!
„Wer? Wer?“
„Die Juden… Sie haben ihn bereits getötet… Er ist bereits niedergestreckt… Heilige Jungfrau Maria… Kačka, wo bist du?.. Mariša… Jano…!
„Es brennt, Menschenskinder. Seht euch den Rauch an…“
Im Nu sieht der Markt aus, als würde ein Spiegel zerbrechen. Verwirrung – Brüllen. Die Augen brennen. Die Leute stürmen in die Läden und holen alles Mögliche heraus. Schießt man? Lasst sie schießen!
„Lumpenpack“ zischt der Stuhlrichter Becsvári. „Auseinander treiben!“
„Paff! Sie haben ihn erwischt! Er ist bereits niedergestreckt…“ hört man in höllischer Verwirrung Menschen schreien. „Stuhlrichter Becsvári! Er wurde von seinen eigenen Leuten getroffen!“
„Wir gehen nach Brod die Kanonen holen“ ruft eine feste Stimme.
„Aj waj![3] Kanonen! Kanonen!“
„Keine Sorge, Leute, sie sind weg! Sie haben die Waffen in die Aborte geworfen!“ schreit Juro Venduš aus Bodová.
„Ich bitte Sie, Herr Srdovan“, sagt ein Priester mit dem Sakrament, der sich nicht fortbewegen kann, „beschützen Sie mich irgendwie. Ich muss zu den Sterbenden.“
„Lasst ihn durch, Leute! Gehen Sie, Herr Pfarrer!“
„Oh, ich werde dich…“ schlägt die Bäuerin einen Juden mit der Bürste, „aber bist du dessen würdig? Ich habe auch noch die Bürste an ihm kaputt gemacht. Und ich habe dir dafür bezahlt, nicht wahr?“
Eine Frau liegt unter dem Tor. Sie brachte ihrem Mann Mittagessen. Sie hat eine Kugel abbekommen. Sie atmet nicht! Ein junger Mann liegt auf dem Marktplatz ausgestreckt. Neben ihm ein Krug, ganz neu. Er hat es niemandem weggenommen. Gekauft. Eine Kugel traf ihn. Seine Mutter kann auf ihn zu Hause warten! Die Dörfler sammeln ihre Toten. Sie hier zu lassen – das wäre respektlos. Sie beladen die Wagen mit dem Ersten, was sie in die Hand nehmen, und – hü!
[…]
Hinter der Stadt brennt noch immer ein großer Strohbock. Schlimmeres ist nicht passiert. Die Menschen strömen von den Straßen zusammen und auch gegeneinander. Die breite Furche entlang laufen unruhige Herren und Herrinnen. Sie sind auf dem Weg Richtung Bystrá, wenn schon die Kanonen kommen sollen.
„Halt, auf die Kniee! Wirst du beten?“
„Ich werde beten, meine Herren, ich werde beten“, zittert der schwarze Bart und die östlichen Augen richten sich scheu auf die angetrunkenen Bauern.
„Aj waj! Aj waj!“ schreien die Herrinnen.
„Bete schön: Gegrüßet seist du, Jungfrau Maria…“
„Ge-grü-ßet se-ist du, Jung-frau Ma-ria…“
„voll der Gnade…“
„voll der Gna-de“
„du bist gebenedeit unter den Frauen…“
„du bist ge-be-ne-deit un-ter den Frau-uen…“
Die Leute laufen herum, als wären sie unzurechnungsfähig. Ja, sie rennen! Sie wissen nicht, was sie tun. Die Erde selbst scheint eine seltsame Kraft hervorzubringen, die ihnen in die Nerven hinein übergeht. So bleibt es bis zum Abend. Und am nächsten Tag. Der Tag des Jüngsten Gerichts! Wer Verstand hat, geht nicht mit. Aber die Dörfer sind dennoch wie ausgestorben. Und möge Blut fließen, und soll es das Leben kosten. Es zieht einer, und der andere zieht mit. „Was? Wie?“ Ein Geist der Rache der Unterdrückten.
„Ratatatata…“ dröhnen die Maschinengewehre.
„O weh, Menschenskinder, o weh – in den Graben!“
„Panzerwaggon! Das sind die ungarischen Matrosen.“
„Achtung, Leute! Sie werden euch umbringen!“
Der Panzerwaggon fährt hoch und beschießt die Straßen. Die Kugeln fliegen durch die Luft – sie würden aus einem ein Sieb machen. Sie treffen Großmutters Herdplatte aus Gusseisen. Sie konnte sie nicht aufgeben. Sie ist gekommen, sie abzuholen. Und ohne die Beute wäre sie auf der Stelle tot. Nun lässt sie sich vor Angst einfach in den Graben fallen. Unweit von dort liegt Toter unter Eisenofen, einem Meteora, begraben. Er braucht ihn nicht mehr, und er hat ihn teuer bezahlt.
„O weh, meine Kuh, Lysaňa“, schimpft ein Bauer. „Sie haben sie mir erschossen, die Räuber!“
„Hauptsache nicht dich selbst, du kleiner Narr.“
Die Menschen ziehen in die Täler zurück. Über ihnen thront der Vysoká. Berühmt für seine Vergangenheit. Tausende von Häusern an seinen Hängen und in seinen Tälern.
„Ratata-tam, ratata-tam…“ blasen die Trompeten. Jemand spielt schon wieder Maultrommel. Und in den Hütten warten die Kinder darauf, was ihr Jano oder Juro ihnen aus der Stadt mitbringen wird.
Das Dorf ist ruhig. Die Burschen kehren aus dem Krieg zurück. Frauen und Mädchen frohlocken.
Wenigstens müssen wir nicht mehr selber mähen. Und in den Wald gehen!
[1] Das Treffen der slowakischen Intelleigenz in Turz St. Martin am 30. Oktober 1918, dessen Teilnehmer sich zum gemeinsamen Staat mit den Tschechen bekannten.
[2] Die Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 in Prag.
[3] Ein (oft antisemitisch) verzerrter Ausdruck für Klage: O weh, o weh.