1945

1945

Das Jahr 1945 führte mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem tiefgreifenden politischen Umbruch in Europa. Die gesellschaftspolitischen Debatten, die in der Nachkriegszeit geführt wurden, sind einerseits von einem programmatischen Neubeginn, andererseits aber auch von ideologischer Kontinuität geprägt, weshalb keineswegs von einer „Stunde Null“ gesprochen werden kann.

Mit der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht im Mai 1945 und dem Kriegsende begann in den verschiedenen europäischen Ländern eine ideologische Abkehr vom Antisemitismus und Faschismus, die sich in den politisch neu formierenden Staaten aber nur langsam durchsetzte und durch die sich abzeichnende Ost-West-Spaltung erschwert wurde. Zwar leiteten die Alliierten Prozesse wegen Kriegsverbrechen und erste Erziehungsmaßnahmen ein, denen auch nationale Gesetze zur Entnazifizierung folgten. Dennoch fand eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den kommenden Jahren nur ansatzweise statt. In den zentraleuropäischen Ländern, die bald in die sowjetische Interessensphäre fielen, wurden ebenfalls Prozesse wegen Kollaboration, Kriegsverbrechen und Hochverrat geführt. Die Frage nach Schuld und Verantwortung für die Verbrechen wurde sowohl im politischen als auch im kulturellen Bereich verhandelt.

In zahlreichen literarischen Werken der Nachkriegszeit manifestierte sich die Auseinandersetzung mit Krieg und Pazifismus. Literarische Texte, Essays und Filme, die von den Erfahrungen der Verfolgung und der Shoah geprägt waren, konnten während des Krieges nur in den Exilländern publiziert werden. Nach Kriegsende erschienen Werke verfolgter und exilierter Autor*innen, Memoiren von Zeitzeug*innen , wie auch Texte aus der ‘inneren Emigration’ und von belasteten Autor*innen. Zugleich beschritt eine junge Generation von Literaturschaffenden neue Wege. Allerdings verlief die Aufarbeitung der Vergangenheit nur zögerlich; in der sowjetischen Einflusszone war sie außerdem begrenzt und ideologisch verzerrt.

Die beginnende politische Abkehr von Antisemitismus und Faschismus bedeutete nicht, dass Nationalismus und Nationalitäten keine Rolle mehr in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung der Nachkriegszeit gespielt hätten. Auf dem Gebiet der Tschechoslowakei begann mit Bezugnahme auf die Kollektivschuld die Verfolgung, Vertreibung und Zwangsumsiedlung der deutsch- und ungarischsprachigen Bevölkerung. Auch in Ungarn kam es zur Internierung und Verfolgung von Deutschen, zu ethnischen Säuberungen und Bevölkerungstransfers. Das zeigt, dass die Abgrenzung aufgrund ethnischer Kategorien nach Kriegsende keineswegs vorbei war. Nationale Diskurse spielten in der politischen Realität, der öffentlichen Debatte und im kulturellen Bereich weiterhin eine Rolle. Während sich in den zentraleuropäischen Staaten nach 1945 kommunistische Regime mit einem international orientierten Fokus auf die Arbeiter*innenklasse etablierten, war die Konzeption einer eigenen „österreichischen Identität“ ein wichtiges Anliegen der Zweiten Republik.

Das Erreichen der staatlichen Souveränität, das Teil einer politischen Emanzipation ist, war in vielen Ländern von revolutionären Prozessen begleitet. Gewaltsame Auseinandersetzungen gehörten  in der Nachkriegszeit zum Alltag der Bevölkerung, wobei bestimmte Personengruppen wie z.B. Häftlinge, Frauen oder Kinder besonders stark betroffen waren. Geschlechterdiskurse spielten nach 1945 besonders auf dem Arbeitsmarkt und beim Wiederaufbau eine Rolle. Während ein Großteil der Männer den Krieg an der Front verbracht hatte, waren Frauen in den Arbeitsmarkt eingetreten. Bei der Rückkehr der Soldaten kamen Geschlechterkonflikte zu Tage, die sowohl in den Familien als auch in der öffentlichen Gesellschaft auftraten. Auch im bisher männlich dominierten Literaturbetrieb erhoben Autorinnen nach 1945 stärker ihre Stimme.