Vor vierzieg Jahren
- Autor*in: Ludwig Hevesi
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1907
- Erschienen in: Pester Lloyd
- Ausgabe-Datum: 08. 06. 1907
- Entstehungsjahr: 1907
- Originalsprachen: Deutsch
- Gattung: Artikel
Kommentar:
Ludwig Hevesi und sein Werk sind dem deutschsprachigen und dem ungarischen Publikum aus unterschiedlichen Kontexten bekannt. Sein Jugendroman über András Jelky galt noch in den 1970er Jahren als ein Bestseller. Nach seinen Anfängen als Journalist in Pest in den 1860er Jahren spezialisierte sich Hevesi ab 1875 als Mitarbeiter des Wiener Fremden-Blatts und als Wiener Korrespondent des Pester Lloyd vor allem auf Kunst- und Theaterkritik.
Vor vierzig Jahren (1907) ist anlässlich des vierzigsten Jubiläums der Krönung von Franz Joseph I. geschrieben und enthält die aus dem Blickwinkel des Augenzeugen geführte Schilderung der Zeremonien von 1867, ergänzt durch eine weiter in der Zeit zurückreichende Erinnerung an Franz Josephs und Elisabeths ersten gemeinsamen Ungarnbesuch im Jahre 1857. Im Feuilleton spielt die persönliche Zeugenschaft als bewusst gestalteter Erzählrahmen eine wichtige Rolle. Gleich der Auftakt des Textes gibt das Signal dazu: „Ein Stück dicker rother Sammt, mit einer Goldschnur mitten durch, kommt mir da in die Hand. Ich stöbere in einer Art journalistischem Reliquienkasten, voll Abfälle von großen und kleinen Gelegenheiten.“ Beim „rothe[n] Sammt“ handelt es sich um ein Stück des Teppichs der Krönungsfeierlichkeiten, das als konkreter Gegenstand für die Echtheit der einsetzenden Erinnerungen garantiert. (Der Teppich wurde damals vom Volk als Requisit zerrissen, man musste da sein, um überhaupt ein Stück zu erwerben.) Die Draperie erhält aber als „goldbenähte[r] Purpursammt“ auch aus einem anderen Grund Bedeutung: Hevesi will nämlich die Relevanz der Begebenheit verdeutlichen, indem er die Funktion von ‚sammtenen‘ Reliquien im genannten historischen Kontext erklärt: „Auch in anderen Residenzen hat es in neuerer und neuester Zeit großartige Hof- und Nationalfeste, Huldigungszüge größten Stils gegeben. Unsere Krönungsfeste sind etwas von Grund aus Anderes, unser Krönungszug muß unvergleichlich bleiben, aus zwei Gründen: dem staatsrechtlichen und dem equestrischen. Dazu kommt noch der Begriff von Pracht und Glanz, den der Ungar hat. Sein alter nationaler Traum von einer übermenschlichen Ueberpracht, von einem Realmärchen, das höchstens ein Ungar verwirklichen kann.“
Die Zeremonialität und der festliche Aufwand der Begebenheit sei, so Hevesi, eine Notwendigkeit gewesen, die das Land und das ungarische Geschichtsbild kennzeichnet. Was bei den Krönungsfeierlichkeiten in Pest und Buda an festlichen Utensilien aufgeboten wurde, war weit mehr als „Kostüm“. Die „ungarische Gala, nationale Festtracht“ waren im Gegensatz dazu ‚gelebte Wirklichkeit‘, die auf der national-kulturellen Mentalität des betroffenen Kollektivs beruht. Die prachtvolle Oberfläche biete Einsicht in den Nationalcharakter, in die ‚Tiefe‘ der ungarischen ‚Volksseele‘. Aus diesem Grund sei das genannte Erinnerungsstück metonymisch und symbolisch, es vergegenwärtigt nicht nur die historische Begebenheit, sondern (jedenfalls für die Ungarn) auch deren Sinn. Die so verstandene Symbolizität der „sammtenen“ Reliquie strahlt freilich auch auf den Berichterstatter zurück: Sie steht für die Echtheit seiner Erinnerungen und erhöht seine Bedeutung als Augenzeuge. Der Besitz dieses Stücks Repräsentation ermächtigt ihn auch dazu, auf sich selbst zu sprechen zu kommen: „Nun, an jenem achten Juni saß ich in der glänzenden Vormittagssonne auf der besten Tribüne gegenüber der Kettenbrücke. In der Luft flatterte es von Nationalfarben, sang von Glockengang und dröhnte von Kanonensalven. […] Es ist schade, mit dem Schildern anzufangen.“ Der verblüffende Schlusssatz dieser Stelle – Abschluss einer längeren Periode über die Prachtentfaltung – macht das Feuilleton erst recht zu einem autobiografischen Text: Die Tatsache, dass man dabei war, ist von einer Relevanz, die dem Bericht über die Umstände vorausgeht. Zu sagen, dass man dabei war, ist wichtiger, als zu erzählen, was geschehen ist. Relevant ist der Gestus der Zeugenschaft. Der, der hier ‚Ich‘ sagt und seinen Namen setzt, wird selbst zu einem Stück Geschichte, genau wie die Draperie, die er heute, als wäre es damals, in Händen hält.
Bezüglich der historischen Rolle des Staatsaktes baut der Text auch einen weiteren Gegensatz auf. Die Feierlichkeiten von 1867 unterscheiden sich von einem ähnlichen, früheren, ebenfalls in der eigenen Biografie verankerten Ereignis: „Mir aber fiel dabei zunächst eine ältere Episode meines noch jungen Lebens ein. Ich war damals Untergymnasiast und hatte den Tag schulfrei. Alle Schulen waren geschlossen, denn der junge Kaiser weilte zum ersten Male in Pest mit der jungen Kaiserin.“ Beim Anblick der Feierlichkeiten von 1867 wird das Bild von Feierlichkeiten aus dem Jahre 1857 in Erinnerung gerufen. Die Umstände seien damals freilich noch ganz anders gewesen: „Der Himmel des Vaterlandes war noch düster umwölkt, da brach dieser erste Lichtstrahl hervor und meldete die Möglichkeit eines neuen Tages.“ Die genannte „Möglichkeit“ wurde damals, so Hevesi, weder von den wenigen Zuschauern des königlichen Einzugs noch vom Schuljungen wahrgenommen, sodass dieser von „eine[r] hagere[n] schwarze[n] Gestalt, de[m] Piaristenprofessor Schirkhuber“ genötigt werden musste, die Kaiserin durch „Éljen“-Rufe hochleben zu lassen. Im Jahre 1867, zum Zeitpunkt der Erinnerung an 1857, bzw. im Jahre 1907, zum Zeitpunkt der Erinnerungen an 1867, erscheint die Begebenheit bereits in einem anderen Licht. „Der gute Alte“, der den Jungen hochhob, „damit ich die Kaiserin besser sähe“, behielt mit seiner historischen Voraussicht Recht. Der Kontrast zwischen der „Reserve des damaligen Publikums“ und der Begeisterung des Publikums von 1867 kommt einmal mehr dem historischen Ereignis der Königskrönung zugute. Die Staffelung der Erinnerungen und ihr Vergleich hebt die Bedeutsamkeit des Jubiläums hervor. Im Lichte von 1857 erscheint 1867 erst recht als ein Fest. Die Häufung der erinnerungswürdigen Jahreszahlen hat aber auch Konsequenzen für das gesamte Feuilleton als autobiografischen Text. Hevesi gedenkt 1907 dem Fest von 1867, bei dem er dem „stillen Einzug“ von 1857 gedachte. Dadurch koppelt er seine eigenen Lebensphasen bzw. Erinnerungen fest an die Geschichte. Der historische Zusammenhang wird über die Erinnerungen des schreibenden Ichs hergestellt. Die ‚Jubelsschrift‘ Vor vierzig Jahren wird dadurch zu einem bevorzugt autobiografischen Text.
Endre Hárs