Brief aus der scheintoten Stadt
- Autor*in: Margit Vészi
- Publikationsdaten: Ort: Wien | Jahr: 1919
- Erschienen in: Neues Wiener Tagblatt
- Ausgabe-Datum: 11. 11. 1919
- Entstehungsjahr: 1919
- Originalsprachen: Deutsch
- Verfügbarkeit: Österreichische Nationalbibliothek
- Gattung: Feuilleton
Kommentar:
Margit Vészi (1885–1916) war Malerin und Journalistin, sie hat auch auf Deutsch veröffentlicht, so auch beim Pester Lloyd. In den Jahren des Ersten Weltkriegs war sie und als Kriegsberichterstatterin der ungarischer Tageszeitung Az Est tätig und kann die “ungarische Alice Schalek” genannt werden. Bezeichnenderweise hat sie über die österreichische Kollegin 1916 eine Karikatur veröffentlicht.
Der Text erschien im November 1919, kurz nach dem rumänischen Einmarsch nach Ungarn und dem Sturz der Räterepublik und reflektiert über die Widersprüche der rasch aufeinanderfolgenden politischen Systeme in der Zwischenkriegszeit in Ungarn mit dem Stilmittel der Ironie. Nach der Revolution im Oktober 1918 übernahm Kun Béla mit seiner Partei die Führung des Landes. Die neue Regierung (der revolutionäre Regierungsrat) errichtete am 21. März 1919 die sogenannte Diktatur des Proletariats mit voller Macht auf der Grundlage sowjetischer Muster. Institutionen, Felder, Banken wurden entprivatisiert. Vészi verweist auf die zunehmende Gewalt und Pogrome gegen Juden, die nach Sturz der kommunistischen Regierung im August 1919 ihren Anfang nahmen. Juden wurden kollektiv des kommunistischen Terrors der Räterepublik beschuldigt und hundertfach von Truppen der Nationalen Armee ermordet. Auch Student*innen veranstalteten rituelle Judenprügel an Universitäten und auf ihren Druck trat das erste antisemitistische Gesetz, das berüchtigte Numerus Clausus (1920) in Kraft, das die Anzahl der Studienplätze für Juden stark beschränkte. Auch wird auf andere historische Vorfälle hingewiesen, so etwa auf die durch die rumänische Armee eingeführte Zensur. Über die Zensur wurde die Informationsvermittlung kontrolliert. Es war üblich, bei Zeitungen, unerwünschte Beiträge zu löschen. Weil die Artikel oft bereits aus dem Drucksatz genommen wurden, erschienen weiße Flecken in der Zeitung, auf deren Konjunktur Vészi im Text anspielt.
Der Text beginnt mit der Heraufbeschwörung einer literarischen Figur, die der damaligen Leserschaft, bzw. dem zeitgenössischen Theaterpublikum bekannt war: mit dem Langschläfer Rip van Winkle aus der gleichnamigen Erzählung Washington Irvings. Margit Vészi reflektiert mit dem Erwachen Rip van Winkles über die gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die in wenigen Monaten stattgefunden haben und den Beobachter (die Beobachterin) erschüttern. Sie stehen im Zeichen eines neuen Zeitalters und sind zugleich wie ein böser Traum. Die Radikalität der Veränderung illustriert Vészi grotesk-ironisch am Beispiel ihrer Wohnung: Diese sollte in der Räterepublik enteignet werden, sodass Vészi ihr eigenes, vormaliges Dienstmädchen überzeugen musste, sie, die ehemalige ‘Herrin’ und sogenannte Bourgeoise nicht auf die Straße zu setzen. Allerdings hat sich die Situation nach dem Ende der Räterepublik, mit Anbruch der Horthy-Ära wieder verändert. Jetzt macht sich die neue-alte Herrscherklasse breit, und Vészi muss auf ihre Wohnung zugunsten eines “Gentryherrn” verzichten. Bezeichnenderweise steht bereits auch die Rechtsprechung auf Seiten der Sieger: Das Gerücht, demzufolge Vészi nie wieder nach Ungarn zurückkehren würde, kann sie selbst nicht widerlegen. Was den Linken nicht gelungen ist, setzen nun die Rechten um: Die Intellektuelle gerät im neuen System symbolisch zur Nicht-Person (persona non grata).
Ein weiteres Thema im Feuilleton ist die Versorgung der Bevölkerung. Was die Folgen des Ersten Weltkriegs betrifft, herrschte in dieser Zeit eine große Lebensmittelknappheit, in deren auch Sterbefälle verzeichnet wurden. Um diese Situation zu mildern, hat der Staat viele Ersatzmittel verteilt. Eine andere bedeutsame Folge war die Hyperinflation, die im Jahr 1922 ihren Höhepunkt erreicht hat. Vészi ironisiert über die verteuerten Produkte und die schlechte Qualität, über die absurden Wechselkurse und über die Machenschaften des schwarzen Marktes.