Mein Ungarntum
- Autor*in: Edith Hoffmann
- Übersetzt von: Bernadett Modrián-Horváth
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1940
- Erschienen in: Nyugat
- Ausgabe-Datum: 1940
- Sprachen: Deutsch
- Originalsprachen: Ungarisch
- Gattung: Artikel
Kommentar:
Die Kunsthistorikerin und Museologin Edith Hoffmann (1888–1945) war bereits in ihrer Familie von Intellektuellen umgeben. Ihr Vater, Frigyes Hoffmann, lehrte im namhaften Eötvös Collegium in Budapest, ihre Schwester, Mária Hoffmann war Literaturhistorikerin. Edith Hoffmann hat in Wien und in Budapest studiert, ihre Dissertation hat sie über die italienische Kunst des 15. Jahrhunderts geschrieben. Sie stand in regem Kontakt mit den führenden Literat*innen der Zeit, über die sie mehrere Beiträge, so etwa Besprechungen und Essays veröffentlichte. Ihre kunsthistorischen Schriften erschienen in Zeitschriften wie der Nyugat, der Napkelet und in verschiedenen wissenschaftlichen Periodika. Sie war Kuratorin zahlreicher Ausstellungen. Edith Hoffmann wurde im April 1945 von einem sowjetischen LKW zu Tode gefahren.
Der vorliegende Beitrag ist eine als Protestschrift konzipierte Familiengeschichte bzw. Selbstbiografie. Der Schwerpunkt liegt auf der Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus der Batschka, ergänzt durch Erinnerungen der Erzählerin an Siebenbürgen, so auch an Szekler und Sachsen. Hoffmann erzählt, wie ihre Vorfahren und Familie zu bekennenden Ungarn wurden, jedoch in der Spätzeit der Doppelmonarchie und der Zwischenkriegszeit das immer heftigere Aufleben nationaler Konflikte innerhalb und außerhalb der Familie erleben mussten. Die Geschichte läuft auf die bitteren Erfahrungen der Erzählerin in der Gegenwart zu und endet mit der Weigerung, den Forderungen der ungarischen Faschisten nach einer Trennung von „Assimilierten“ und „Stammungarn“ nachzugeben. Der Text ist reich an historischen Details über das Leben, die Mentalität und die Attitüde von ungarischen Nationalitäten, und erschütternder Bericht über die politische Radikalisierung.
Übersetzung
Dr. Edith Hoffmann: Mein Ungarntum
Die Familie meines Vaters, Franken (also eigentlich keine Schwaben) aus der Nähe von Odenwald, ließ sich 1786 in der Batschka nieder. Die älteste vollständige Familiengeschichte geht auf das Jahr 1848 zurück, als die „Sieben Schwaben“, deren Andenken im Roman von Ferenc Herczeg verewigt ist, ihr Dorf so heldenhaft gegen die aufgehetzten Serben verteidigten. Einer der sieben Schwaben, Heinrich, war der Bruder meines Großvaters, der im Dorf als „der Ugyan-Hoffmann“ bekannt war, weil sein oft gebrauchter Lieblingsausdruck „Ugyan!“, d.h. „Komm schon!“ lautete. Auch seine Familie wurde so genannt, die „Ugyan-Hoffmanns“. Die Rede der Schwaben war schon in meiner Kindheit durchsetzt mit ungarischen Wörtern. Wenn sie wütend wurden, würzten sie ihre Mundart mit ein wenig ungarischem Paprika: Es hagelte Wörter wie „ugyan“ („komm schon“), „pedig“ („aber“), „dehogy“ („keineswegs“) usw.
Ich weiß nicht, unter welchen Verhältnissen sie in ihrem Herkunftsland gelebt hatten, aber hierzulande ging es ihnen schon sehr gut; meine Verwandten waren fast ausnahmslos wohlhabende Bauern, sozusagen Kleinwirte, und es gab sogar einige schwerreiche Großgrundbesitzer unter ihnen. Mein Großvater war zunächst ein äußerst reicher Großpächter, aber er verlor sein ganzes Vermögen durch die Verschwendungssucht eines seiner Söhne, zwei aufeinander folgende Dürresommer und Spekulationen mit den Ernten. Danach beschäftigte er sich mit Tischlerei und man hörte kaum noch ein Wort von ihm. Seine Gefühle zeigte er selten offen, umso augenfälliger war es, das Familienoberhaupt weinen zu sehen, als mein Vater sieben Jahre alt war. Dieses für die ganze Familie denkwürdige Ereignis fand statt, als Großvater von Széchenyis Tod erfuhr. Heutzutage denke ich oft an diese sehr rührenden Geschichten zurück, weil sie meiner Meinung nach die Lage der Batschkaer Schwaben zu jener Zeit deutlich zum Ausdruck bringen. Sie betrachteten sich damals und noch lange danach einfach als deutschsprachige Ungarn, und auch wenn dieser Gedanke heute für manche als der reinste Unsinn erscheinen mag, für sie war er selbstverständlich und beruhigend. Wenn auch nicht alle, aber viele von ihnen konnten Ungarisch sprechen. Unter den Briefen meines Vaters fanden wir Entwürfe in ungarischer Sprache für Briefe an seinen Vater. Der alte Hoffmann konnte also jedenfalls soweit Ungarisch, dass er ab und zu auf Ungarisch angeschrieben werden konnte. Man sagt, er sei er ein Mann mit gepflegtem Aussehen und Geist gewesen, mit der Seele eines Gentlemans. Der Schwager der Schwester meines Vaters war der Maler István Delhaes, der, obwohl er in Wien lebte, seine künstlerischen und anderen Sammlungen, die ein Vermögen wert waren, 1901 dem ungarischen Staat vermachte. Dadurch wollte er zum Ausdruck bringen, dass er der Nation sogar in der Fremde treu blieb.
Mein Großvater mütterlicherseits, Károly Engel, kam selbst nach Pressburg; Er stammte aus einer alten Familie aus Mecklenburg-Schwerin. […] Als Großvater Engel sich in Pressburg niederließ, eröffnete er eine große Werkstatt für Wand- und Raummalerei für feinere Arbeiten und verdiente ein großes Vermögen, bis die Tapetenmode ihn völlig ruinierte. Niemand wollte mehr die bemalte Wand, so schön die Szenen und Blumendekorationen auch sein mochten, die er sich dafür ausdachte. Mein Großvater war sehr gebildet und eine Berühmtheit der Stadt, aber vor allem sehr wohltätig. In der Sonntagsschule für Lehrlinge übernahm er kostenlos den Zeichenunterricht, und so entdeckte er unter den kleinen Lehrlingen János Fadrusz. Dieser war ihm bis zu seinem Tod dankbar. Diese Geschichte, die meiner Erinnerung an ihn auch wegen meines Berufs eine besondere Wärme verleiht, machte mich schon als Kind stolz auf ihn. Da ich meinen Großvater liebte und mich mit ihm identifizierte, hatte ich das Gefühl, dass „wir“ unsere Pflicht gegenüber unserer Heimat in hohem Maße erfüllt und der Nation ein großes Geschenk gemacht haben. Ich kann mit Fug und Recht von „unserer Heimat“ sprechen, denn obwohl mein Großvater nicht hier geboren wurde und auch vom Aussehen her an Wotan erinnerte, war er ein Ungar mit Leib und Seele. Er gehörte zu denjenigen, die sofort vom Charme des Ungarntums gefangen genommen wurden und sich fast ohne Übergang einen Ungarn nannten. In kürzester Zeit kleidete er sich wie ein Ungar. Als großes Sprachtalent sprach er perfekt Ungarisch, wie auch alle europäischen Sprachen.
Ich wurde in Kronstadt geboren, hierher wurde mein Vater aus Pressburg versetzt. Die Ungarische Realschule in Kronstadt wurde 1886 gegründet, dafür wurden die hervorragendsten jungen Lehrer mit bester ungarischer Gesinnung einzeln ausgesucht. Mein Vater, Lajos Méhelyi, Sándor Mika, Jenő Binder, Emil Rombauer usw. waren die Mitglieder des Kollegs. Trefort wollte, dass die ungarische Schule den Ungarn Prestige verleiht und die Nationalitäten anzieht. Mein Vater war ein begeisterter Mitarbeiter der Kronstädter ungarischen Zeitung, und er nutzte seine persönlichen Beziehungen, um beispielsweise Jászai zu einem Gastspiel in Kronstadt zu bewegen. Genauso war er auf dem Feld des Journalismus und des Theaters bereits in Pressburg tätig.
Kronstadt war damals ein Brandherd der Nationalitäten, und die Nationalitätenfrage tauchte ständig auf; nicht einmal ein Kind konnte ahnungslos bleiben. Ich erinnere mich, dass es Zeiten gab, in denen Schüler einer Realschule, die auf einem Ausflug waren, aus dem Fenster eines Hauses im rumänischen Viertel mit Steinen beworfen wurden. Ich selbst kannte Rumänen eher nur vom Markt her. Die lieben Marktfrauen riefen meiner Mutter schon von weitem zu, als sie alle vier von uns mitnahm, um Lebkuchen zu kaufen. „Vai de mie, patru, patru!“ (Weh mir, vier, vier – gemeint war: Mädchen!) Ich habe einen Rumänen mit flatterndem weißem Hemd, Onkel Raduj, besonders ins Herz geschlossen; Er war mein Bräutigam, denn ich dachte, es würde wegen seiner kleinen Statur besser zu mir passen als andere Männer.
Die Sachsen zeigten im Allgemeinen wenig Sympathie für uns Ungarn. Einmal am 15. März traf meine Schwester auf der Straße einen unbekannten sächsischen Jungen aus gehobenem Haus. Plötzlich nahm der Junge aus seiner Tasche eine Kokarde in Nationalfarbe, spuckte sie an und warf sie auf den Boden. Was mochte er zu Hause gehört haben, dass er so etwas tun konnte? Später wurde oft gesagt, dass einige Familien keinen Kontakt mehr zu Familienmitgliedern haben wollten, die in Pest Arbeit gefunden hatten.
Da ich die einzige in der Familie war, die in Siebenbürgen geboren wurde, machte ich einen etwas exotischen Eindruck auf meine Schwestern; Ich konnte mich selbst ein wenig als Szeklerin fühlen. Als süßeste Version von ethnischen Kämpfen haben sie mich „Du Tschangobotschkor“, „Du Szeklerblume“ genannt und sanft geneckt. Ich fand es einerseits sehr amüsant, ein „Tschangobotschkor“ zu sein, und mir gefiel das Wort „Szeklerblume“ auch sehr gut, andererseits war ich auch stolz darauf, die siebenbürgische Farbe auf der Landkarte meiner Familie zu vertreten, die allein die entlegensten Regionen des Landes vereinte. Damals ahnte ich noch nicht, dass die vier Regionen, die mir ein Gefühl der Geräumigkeit gegeben hatten, später zu einem verstümmelten Teil schrumpfen würden, in der ich bereits Verwandte hatte, die ich aber nur vom Hörensagen und durch die Stoßseufzer meiner sich nach Pest sehnenden Mutter kannte.
Unser Umgangskreis hier war gemischt, er bestand hauptsächlich aus Ungarn – damit sind natürlich Ungarn jedweden Namens gemeint –, aber wir hatten auch einige sehr anständige sächsische Freunde. Der absolute Liebling der Familie, unser Hausarzt, war Armenier. Meine Mutter, die an Fragen der Nationalität desinteressiert war, betrachtete das individuelle Verdienst als einzigen Wert. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr sprach sie nur Ungarisch, doch dann wurde ihre Erziehung anstelle der vielbeschäftigten Eltern von einer vornehmen französischen Dame aus der Schweiz übernommen, die selbst ihren Namen, ihre Heimat, ihre Religion und ihre Lebensbedingungen gegen neue tauschte, als sie nach Pressburg kam, um Französischunterricht zu geben. Von ihr konnte man kein feuriges Ungarntum lernen. Meine Mutter heiratete früh, und die ungarische Sprache musste sie in ihrer Ehe wieder erlernen. Ihre beste Freundin in Kronstadt, Frau Méhely, sprach kein Wort Deutsch.
Mein Vater war ein guter Ungar, und er blieb es bis an sein Lebensende, aber er liebte seine zahlreichen Geschwister und deren Familien. Persönliche Begegnungen waren zwar eher rar, aber ihre Beziehung war umso tiefer und inniger. Er löste sich also nicht gänzlich vom Deutschtum; er war auch später germanophil, aber nur insofern, dass er als Gelehrter und Hochschullehrer die wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen der Deutschen schätzte. Er war von ihnen beeindruckt.
Zu Hause sprachen wir Deutsch, aber hauptsächlich, um Deutsch von unserer Mutter zu lernen und nicht fehlerhaftes Ungarisch. Mit unserem Vater unterhielten wir uns eher auf Ungarisch, vor allem ab dem Zeitpunkt, als wir seine Schülerinnen wurden. Wir Kinder sprachen natürlich von Anfang an Ungarisch untereinander, sogar mein Kindermädchen war Ungarin. Ich war acht Jahre alt, als wir nach Pest zogen.
Ich kann für mich selbst nicht ganz genau rekonstruieren, wann es für mich zuerst zum Problem wurde, eine Ungarin zu sein. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, habe ich immer das Gefühl, mit diesem Problem geboren worden zu sein, oder sogar, dass es das zentrale Problem meines Lebens war. Hätte ich nicht die ersten acht Jahre meines Lebens in Kronstadt verbracht, wäre ich vielleicht nicht so früh auf diese Fragen aufmerksam geworden. Alles um mich herum war ungarisch, unsere schönen szeklerischen Dienstmädchen, die Schule und die Spielkameraden, aber wir hatten einen deutschen Namen, sprachen mit meinen Eltern Deutsch, und ich wusste, dass irgendwo, an einem für mich unbekannten Ort, alle meine Verwandten dasselbe taten. Ich habe mich gefragt: Was bin ich denn? Wo ist meine Heimat? Wie ist es möglich, dass ich auf Ungarisch denke und doch Deutsch spreche? Was hat diese unklare Situation zu bedeuten? Habe ich eigentlich das Recht, mich vorbehaltlos als Ungarin zu bezeichnen? Ist das denn nicht eine Lüge? Und obwohl ich das alles nicht verstand, wusste und spürte ich, dass ich eine Ungarin war. Das Konzept des ideellen Ungarntums war für mich noch unbegreiflich. Vielleicht verwechsle ich hier Gefühle aus meiner Pubertät mit früheren Gefühlen, aber ich bin sicher, dass diese Gedanken von Anfang an da waren, wenn auch nur vage. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir selbst ein Problem aus diesen Fragen machte, oder alle Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind, dasselbe durchmachen. Das hätte ich so gern gewusst, und ich hätte so gern mit jemandem darüber geredet, sogar noch viel später, aber irgendetwas hielt mich immer davon zurück. So nahm das Gefühl der Vaterlandsliebe die Gestalt einer sehnsüchtigen und hoffnungslos erscheinenden Liebe an, und war von der Befürchtung begleitet, dass mir jemand eines Tages schonungslos ins Gesicht sagen würde, dass ich doch keine Ungarin sei.
Es folgten Jahre, in denen meine glückliche und sorglose ungarische Identität durch keinerlei äußere Umstände gestört wurde, abgesehen von gelegentlichen harmlosen Fragen derjenigen, die aufgrund meines Namens und meines Geburtsortes nachfragten, ob ich eine Sächsin sei. Es waren Fragen wie diese, die mein altes Problem aufrechterhielten. Auch wenn ich in der Tat keine Sächsin war, hatte ich das Gefühl, etwas zu verbergen, was jeder sehen konnte, und dass der Fragende eigentlich wissen wollte, inwieweit ich eine Deutsche war. Ich schämte mich nicht für meine Herkunft, darum geht es nicht, aber meine Situation war schief und unbeholfen und konnte leicht missverstanden werden. Ich war eine deutschstämmige Ungarin im wahrsten Sinne des Wortes, aber eine so lange Definition ist für alle anderen uninteressant und kann von niemandem verstanden werden, dessen Herkunft klar ist.
Jedenfalls hatte ich, seit ich ein wenig erwachsen geworden war, Frigyes Riedl an meiner Seite, meinen einzigen Freund und intellektuellen Führer für viele Jahre, dessen Name ebenfalls deutsch war, und der mit seiner Mutter ebenfalls hauptsächlich Deutsch sprach. Und wie ungarisch doch seine Mutter war, die noch im hohen Alter mit strahlendem Gesicht von ihren Erlebnissen im Jahr 1848 sprach, und wie ungarisch er selbst war! Sein Ungarntum ließ keinen Zweifel aufkommen. Sein Beispiel zeigte mir, dass die Sicherheit des Gefühls und das Recht darauf verdient werden können. Seine Person machte einen enormen Eindruck auf mich: In ihm sah ich das Vorbild eines aktiven und produktiven Ungarn, der das Recht hatte, sich für das zu halten, wofür er wollte. Riedl war frankophil und schon allein dies war sehr sympathisch.
Seine Sicherheit gab auch mir Sicherheit. Aber seit wir in Pest lebten, erhielten wir von Zeit zu Zeit Besuch von Verwandten aus der Batschka, manche von ihnen mochte ich sogar. Mit zunehmender Besorgnis merkten wir alle, dass an dem einst so heiteren Himmel der Batschka nun Wolken aufzogen. Wir hörten immer öfter, dass dieser oder jener Herr aus Deutschland dort war, einen Vortrag hielt, zu ihnen sprach und dies und jenes sagte. Einer meiner in Pest lebenden Verwandten, der seine deutschen Verbindungen aus seiner Zeit in Berlin nach der Universität aufrechterhielt, wurde regelrecht in die Enge getrieben. Man fand ihn zu Hause, im Café, in seinem Büro, man schickte ihm Briefe in das Café, damit diese vor seiner Familie verborgen blieben, usw. Unter seinem volkstümlichen Namen wurden in den Dörfern der Batschka ohne sein Wissen Vorträge in seinem Namen angekündigt, dann redete man in seinem Namen an das Volk, wahrscheinlich nicht ganz in seinem und sicher nicht in meinem Sinne. Wenn er uns besuchte, waren laute Diskussionen aus dem Zimmer meines Vaters zu hören. Aber selbst mein armer Cousin war von diesen Dingen sehr mitgenommen; sie gingen über ihn und seine ehrlichen, ursprünglichen Absichten hinaus. Seine Verbindungen schadeten verständlicherweise auch seiner Karriere, und die Aufregung beschleunigte seinen frühen Tod und den Ausbruch seiner Geisteskrankheit (1912).
Die Wirkung der Propaganda war schnell und gründlich: Ein junges Familienmitglied aus der Batschka, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, erklärte bei einem Besuch in Pest um 1908, dass sein Bruder die Universität Zagreb besuchen werde, weil er nicht an der Universität der Ungarn, des Feindes ihres Volkes, in Pest studieren könne. Und das war der Enkel meines Großvaters, der István Széchenyi unter Tränen betrauerte und Mitglied einer Familie, aus der in den letzten Jahrzehnten mehrere ausgezeichnete Experten an der ungarischen Universität studiert hatten. Und verwandt mit meinem Vater, der ein Leben lang mit selbstloser Aufopferung der ungarischen Kultur diente, und verwandt mit János Wigand, dem späteren Rektor des Gymnasiums in Szekszárd, in dessen Festrede von 1893 in Pancsova, die auch gedruckt erschienen ist, es heißt: Die Ungarn „schätzen den Menschen auch in den Angehörigen anderer Nationalitäten. Daher rühren ihr ausgeprägter Sinn für die Gerechtigkeit, ihre beispiellose religiöse Toleranz, ihre Großzügigkeit gegenüber den Nationalitäten und ihre starke Abneigung gegen jeglichen Zwang und jegliche knechtische Unterwürfigkeit. Dieser Charakterzug schmückt ihre Geschichte in leuchtenden Farben, und diejenigen Phänomene, die im Gegensatz dazu stehen, haben, wie wir wohl wissen, herzlich wenig mit dem Genius des ungarischen Volkes zu tun.“
Von diesem Besuch an hat sich die Beziehung zwischen uns und den Batschkaern ziemlich gelockert, sie wurden sogar für meinen Vater zunehmend fremd. Und sie trugen nicht einmal die Schuld daran. Die Verantwortung liegt bei denjenigen, die die verheerende Tätigkeit der politischen Akteure nicht bemerkt haben oder nicht bemerken wollten. Der Boden war schon unterminiert, und nach dem Krieg konnte nichts anderes erfolgen als die Nationalversammlung der Sachsen in Hermannstadt und die Loyalitätserklärung der Batschkaer Schwaben gegenüber den Serben. Einige der in dem verstümmelten Land lebenden, aus der Batschka stammenden Deutschen, die dem ungarischen Vaterland treu blieben, schlossen sich zu einer Art Verein zusammen und bestürmten den Völkerbund mit Bitten um die Rückgabe der Batschka an Ungarn. Unter den Schriften meines Vaters fanden wir die Entwürfe mehrerer Petitionen, für deren Ausarbeitung er offensichtlich verantwortlich war. Wir erfuhren nur indirekt über die Tätigkeiten von anderen, über ihre Forderungen, dass die „magyarisierten“ Dörfer wiedergermanisiert werden sollten, selbst wenn gegenwärtig niemand auch nur ein Wort Deutsch kann usw. Jeder, der Augen im Kopf und Ohren hatte, konnte das und vieles andere mitbekommen.
All diese Ereignisse erzähle ich nur, weil sie einen tiefen Eindruck auf mich gemacht und mein ungarisches Selbstbewusstsein gestählt haben. Meine sanfte und sehnsüchtige ungarische Identität verwandelte sich längst in eine kämpferische, und ich habe diejenigen hassen gelernt, deren Wirken gegen Ungarns Interessen gerichtet war.
In diesem kämpferischen Zustand, in der stolzen und beseligenden Sicherheit meiner ungarischen Identität geriet ich in die Gesellschaft der sogenannten Gentry, des niederen ungarischen Adels. Ich fühlte mich unter ihnen wohl und war von ihrer unbekümmerten und liebevollen Art bezaubert, aber der Umgang mit ihnen war nicht ungetrübt. Ich weiß ja, dass es in Ungarn seit langem üblich ist, halb scherzhaft, halb verärgert zu sagen: „dieser verdammte Slowake“, „dieser verfluchte Schwabe“ usw., und auch ich selbst habe es mehr als einmal gesagt, ohne darüber nachzudenken. Meistens hatte es nicht mehr zu bedeuten, als wenn ein Kind sagte: „Du Butter“, „Du Brot“. Aber es ist eine Sache, es selbst zu sagen, und eine andere, wenn es auf einen angewendet wird. Man weiß, dass es nicht ganz ernst gemeint ist, und doch nimmt man es im wörtlichen Sinn, denn dieses Aufblitzen legt die Entfremdung bloß, die tief in den Seelen lauert: Sie betrachten mich doch nicht als völlig ebenbürtig mit sich! Ich wusste auch, dass es nur eine engstirnige Schicht der Gentry war, die so dachte, und dennoch begann ich mich zu fragen, was diese Person als Einzelner für sein Land und für seine ungarische Identität getan hatte, und was hatte ich dafür getan? Welches Recht hat er, sich für einen wertvolleren Ungarn zu halten als mich? Aber solche Vorhaltungen, auch wenn sie weh taten, konnten mich nicht in die unsichere Suche zurückdrängen, und noch weniger konnten es die späteren literarischen und anderen Angriffe, die mangels wissenschaftlicher Argumente meine ungarische Identität in Zweifel zu ziehen versuchten. Meine Heimat hatte mit all diesem nichts zu tun. Sie war eine nicht in Worte zu fassende, nur der Welt der Ideen innewohnende Realität, ganz getrennt von Menschen, die mir nicht gewachsen waren, eine beseligende Ausstrahlung aus der Ferne.
Ich diente dieser Heimat so, wie ich es für richtig erachtete, und befolgte die Lehre von Frigyes Riedl: Man soll nützlich sein. Eine Freundin wollte einmal mir gegenüber ihrem Missmut Luft machen, als sie mir ins Gesicht schleuderte: „Du bist ja jede Minute des Tages nützlich!“ Ich habe diese Äußerung als die höchste Form der Anerkennung aufgefasst. Ja, oft dachte ich mir, wenn ich mich durch die vor mir gesetzten wissenschaftlichen oder musealen Aufgaben unter Verzicht hindurchkämpfte und sah, wie fröhlich andere ihre Zeit verbrachten, dass meine Arbeit sehr wichtig für die Kultur des Landes ist und folglich unter allen Umständen fortzusetzen sei. Vielleicht war es übertrieben, meiner Arbeit eine derartige Bedeutung beizumessen und dafür ein solches Opfer zu bringen, und es mag manchen sogar überheblich oder unbescheiden erscheinen, wenn ich darüber so rede. Aber ich kann über die Dinge nur so sprechen, wie ich sie sah, und diese Überzeugung gab mir jedenfalls Kraft. Daraus leitete ich mein Recht ab, eine Ungarin zu sein; Durch Menschlichkeit zum Ungarntum zu gelangen, das war mein Ziel. Dies ist ein Kampf, den ein Mensch ungarischer Abstammung nicht kennen, vielleicht nicht einmal nachvollziehen kann. Natürlich könnte man es einfach als Pflichtbewusstsein bezeichnen, aber für mich hatte es eine andere Färbung, es war mit mehr Wärme, mehr Zärtlichkeit erfüllt. Ich habe mehr und mit mehr Liebe getan, als was die bloße Pflicht verlangt. Und wenn ich heute auf meine Bemühungen zurückblicke, habe ich das beruhigende Gefühl, dass mein Leben mir das Recht gegeben hat, zumindest mich selbst als Ungarin zu betrachten. Um alles andere kümmere ich mich nicht. Mit dieser Antwort stand ich in der Schuld des blonden Mädchens mit den staunenden Augen, das einst auf der Suche nach seiner Heimat war, – mir selbst.
In meiner Laufbahn, und das kann ich mit gutem Gewissen sagen, hat man mir nie zu spüren gegeben, dass ich deutscher Herkunft bin, und es wurde nie erwähnt, dass mein Name deutsch ist.
Aus dem Gesagten ergibt sich fast wie von selbst, was ich von der heute gängigen Debatte über Assimilierte und Stammungarn halte. Ich kann den Standpunkt der Stammungarn verstehen, aber ich empfinde ihn als eine entsetzliche und grausame Ungerechtigkeit, ebenso wie die Forderung einer konservativen Zeitung, dass niemand, der einen – ich weiß nicht mehr – deutschen oder fremden Namen trägt (vielleicht ein neuer Semmelweiss?!), einen Straßennamen erhalten sollte, mochte er dem Land noch so einen großen Dienst erwiesen haben. Das mit den Straßennamen ist natürlich kindisch, aber der Hass, der hinter dem Antrag steht, ist keineswegs kindisch; Er führt die alte Verachtung der niederen Gentry gegenüber den Nationalitäten fort. Ich wiederhole, ich verstehe diesen Standpunkt, denn die Dissimilierten haben sämtliche Nationalitäten in Ungarn kompromittiert und jede Person fremder Abstammung verdächtig gemacht. Jedoch, die Großzügigkeit war über tausend Jahre hinweg einer der wichtigsten Charakterzüge des ungarischen Volkes. Wenn unser Glaube daran ins Schwanken kommt, gerät alles um uns herum ins Schwanken. Jemandem, der sein ganzes Leben lang ehrenhaft gekämpft hat und der Nation trotz aller Versuchungen treu geblieben ist, kann nicht das Recht abgesprochen werden, sich als Mitglied der Nation zu betrachten.
Deutsch von Bernadett Modrián-Horváth
Az én magyarságom. In: NYUGAT 1940 Nr. 4, S. 161–166.