Aktuelle Themen in unserer Literatur. Der Stil von gestern
- Autor*in: László Kéry
- Übersetzt von: Orsolya Rauzs
- Behandelte Person: Georg Lukács
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1945
- Erschienen in: Magyarok
- Ausgabe-Datum: 01. 09. 1945
- Sprachen: Deutsch
- Originalsprachen: Ungarisch
- Gattung: Artikel
Übersetzung
László Kéry: Aktuelle Themen in unserer Literatur
Der Stil von gestern
Beginnen wir vielleicht mit einer netten und in der Literatur sehr verbreiteten Täuschungsmanöver: Wir könnten vorliegenden einfachen Bericht einem „fremden Reisenden“ oder einem die Erde besuchenden „Marsbewohner“ in den Mund legen. Wir könnten uns in diese schlaue Verkleidung hüllen, um mutiger sprechen zu können, ohne Angst vor Bloßlegung. Die Wahrheit ist ja immer treffender und Fehler sind immer verzeihlicher, wenn sie von einem Fremden gesagt werden.
Es gibt Epochen, in denen die Wahrheit nur mithilfe von Täuschung ausgesprochen werden kann. Der Zwang, der den Schriftsteller dazu treibt, statt direkter Ausdrucksformen eher raffiniertere zu benutzen, führt zugleich zu einem bestimmten Stil. Wenn man die Wahrheit nicht offen sagen kann, erzählt der Schriftsteller über etwas, was die Phantasie anregt, während er hartnäckig an etwas anderes denkt, d.h. er allegorisiert. Diese Trennung zwischen dem wörtlichen Sinn und der wahren Bedeutung des Gesagten ist jedoch nicht nur für die Allegorie charakteristisch, sondern auch für alle unter Zwang formulierten Bekenntnisse des Schriftstellers. Seine Kunst besteht gerade darin, zwischen Sinn und Bedeutung eine Parallele zu ziehen, sodass der Leser, dem der Schriftsteller nur Ersteres mitteilen möchte, Letzteres nicht bemerkt, wobei Ersteres durch Letzteres in seinem wahren „Sinn“ erscheint. Die betreffenden Gattungen – die Allegorie, einige Satirenarten und viele andere Gattungen, die keinen spezifischen Namen haben – vermitteln Menschen in einem bestimmten Zeitalter und einer bestimmten Gemeinschaft immer mehr als Menschen, die nicht in diesem Zeitalter oder dieser Gemeinschaft leben. Nach einem halben Jahrhundert ist sogar die lebhafteste Satire voll totem Stoff! Und was den Einfluss der Gemeinschaft auf das Verständnis ihrer Mitglieder betrifft? Vor Kurzem ist die grundlegende Aufsatzreihe von György Lukács auch bei uns erschienen, welche die Triebkräfte unseres literarischen Lebens zwischen den beiden Kriegen aus der Perspektive der radikalen Demokratie genau und authentisch vorstellt. In diesen besonders geistreichen Aufsätzen, in denen langfristig gültige Thesen formuliert werden, lässt sich die Unsicherheit im Verstehen mehrmals beobachten, die mit der erzwungenen „extra Hungariam“-Situation des Schriftstellers erklärt werden kann. Lukács misst zum Beispiel die Verantwortung von Gyula Illyés nur mit dem strengen Maßstab seiner eigenen korrekten Thesen und vor allem der Dringlichkeit einer progressiven Antwort. Er berücksichtigt nicht – da er es nicht berücksichtigen kann –, was innerhalb der Gemeinschaft jedoch selbstverständlich war, nämlich dass in diesem unter Zwang entwickelten Stil die Bedeutung hinter dem Wortsinn unmissverständlich ist. Die Zweideutigkeit wird nur dann zu einem hinterhältigen Spiel, wenn tatsächlich eine Ambiguität dahintersteckt. Ansonsten ist sie ein schriftstellerischer Stil, in bestimmten Epochen sogar die einzige Ausdrucksform, deren politische Wirkung einer „unmissverständlichen“ Antwort oder einer direkten Anleitung vielleicht nicht gleichkommt, aber viel mehr wert ist als das Schweigen.
Heute muss man nicht mehr schweigen, und man muss nicht unbedingt – und auf keinen Fall unter Zwang – die Möglichkeiten nutzen, die sich aus der oben dargestellten Verspieltheit des Stils und aus der Trennung der Bedeutung ergaben. Und die Antwort auf unsere spielerisch gestellte Frage sollte Folgendes sein: Wir sollten uns nicht beeilen, den etwas abgetragenen Anzug des „distinguished foreigner“ anzuziehen, sondern wir sollten froh sein, dass wir es nicht tun müssen.
Deutsch von Orsolya Rauzs
Irodalmunk időszerű kérdései. In: Magyarok, 1945, Heft 9 (September), 135–137.