Befindet sich die Ehe in einer Krise?
- Übersetzt von: Orsolya Rauzs
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1947
- Erschienen in: Új Idők
- Ausgabe-Datum: 1947
- Sprachen: Deutsch
- Originalsprachen: Ungarisch
- Gattung: Reportage
Übersetzung
N.N.: Befindet sich die Ehe in einer Krise?
Es hat bisher kaum eine Epoche gegeben, in der die Menschen auf ihre Art und Weise nicht darüber diskutiert hätten, ob die Institution der Ehe die endgültige Lösung sei. Heutzutage ist diese Frage dringender und aktueller denn je: Die Zahl der Scheidungen ist weltweit dramatisch gestiegen, was ebenfalls eine Folge des Krieges ist. In Kriegszeiten heiraten junge Menschen unüberlegt und voreilig, und nach dem Krieg lassen sie sich nicht weniger leichtfertig und voreilig scheiden. Es ist daher sehr erfreulich, dass unsere Befragten trotzdem einstimmig sagten, dass Ehe und Familie weder von Menschen erfunden noch vom Gesetz vorgeschrieben, sondern von der Vorsehung zur ewigen Form unseres irdischen Lebens bestimmt wurden.
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RÓBERT SEMTEI
Rechtsanwalt
Die traurige Wahrheit ist, dass die Zahl der Scheidungen steigt: Auf meinem Schreibtisch liegen jetzt mehr Scheidungsakten als je zuvor in meiner Praxis. Neue Scheidungsursachen tauchen aber nicht auf. Ich höre auch heutzutage die alten, immer wiederkehrenden Klagen: Frauen behaupten, ihr Ehemann erfülle nicht seine ehelichen Pflichten, er kümmere sich nicht um die Versorgung von Frau und Kindern, er verheimliche sein Einkommen und gebe es für eine andere Person oder andere Personen aus, er sei Alkoholiker oder ein leidenschaftlicher Kartenspieler. Männer beschuldigen ihre Frauen damit, dass sie sich nicht um den Haushalt kümmern, Mann und Kinder vernachlässigen, verschwenderisch sind, flirten oder Untreue begehen. Häufig verliebt sich der Mann oder die Frau in eine andere Person – dann sehen sie die Fehler des oder der anderen am klarsten und wollen die Scheidung am schnellsten. Und warum es wohl heute mehr Scheidungen gibt? Weil die Menschen nervöser, ungeduldiger, egoistischer sind und mehr erleben möchten.
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MALVIN S. BOKOR
Schriftstellerin
Der Grund für die heutige Krise der Ehe ist der Krieg. Wegen des Weltkriegs und seiner Folgen sind die Menschen nervöser, habgieriger und egoistischer geworden. Der Krieg trennte die Ehepaare für lange Jahre voneinander, sodass sie sich gegenseitig fremd wurden. Als sie wieder zusammen waren, konnten sie nicht mehr zueinander finden. Die Leiden während der Belagerung, die Wohnungsprobleme, die gestiegenen Ansprüche und die Verwirrtheit einiger Menschen wegen plötzlichen Reichtums haben das moralische Fundament der Ehe untergraben. Und dazu kommen noch die Kinderehen. „Wer weiß, wie lange ich noch lebe“, dachten viele junge Soldaten und heirateten das erste Mädchen, das sie anlächelte. Auch wenn sie – Gott sei Dank – am Leben blieben, war die Liebe verschwunden. Die Erinnerung an ein kurzes Glück liegt in gemütlosen Scheidungsakten vor den Anwälten, so sehe ich das. In meinem eigenen kleinen Freundeskreis habe ich aber keine Ehekrise gesehen. Und obwohl wir beide, ich und mein Mann, sozusagen alles Schlimme durchgemacht haben, was der Krieg mit sich bringen kann, stehen wir heute mit grauen Haaren immer noch genauso nebeneinander wie vor Jahrzehnten, als wir von einem längst verstorbenen alten Pfarrer getraut wurden. Und zwar weil wir uns lieben und Kinder haben, die wir beide gleichermaßen lieben.
JÁNOS SCHNELL
Neurologe, Chefarzt des Ungarischen Staatlichen Instituts für Kinderpsychologie
Nach dem Krieg und durch die darauffolgende eingeschränkte Lebensweise wurden die Menschen von einer heißen Lebensgier und vom Wunsch nach Entschädigung ergriffen, welche Gefühle in der Familie oft nicht befriedigt werden können. Ob man seine Ansprüche immer höher schraubt oder sie auf das Minimum reduziert, stehen sie häufig in keinem Verhältnis zu den Möglichkeiten der Befriedigung, was viel Unruhe und Reibung verursacht. Die natürliche und gesunde Arbeitsteilung eines Ehepaars, nämlich dass der Mann draußen kämpft und die Frau sich um ein gemütliches Zuhause kümmert, gibt es heute nicht mehr. Frauen müssen sich ebenfalls an den Kämpfen des Broterwerbs und des politischen Lebens beteiligen, was ihrer uralten Berufung und ihrer biologischen Veranlagung widerspricht. Dadurch ist das Zuhause nur noch eine Unterkunft, der Ehepartner ein einfacher Partner und das Ehegelübde, das jederzeit gebrochen werden kann, eine leere Floskel geworden. Die heutigen Menschen sind in psychologischen Sachen absolut uninformiert: Sie haben keine Ahnung von den psychologischen Beweg- und Hintergründen sowie den Folgen der eigenen oder fremden Handlungen und wissen nichts von Verantwortung. Die miserabelsten Opfer in dieser Ehekrise sind die Kinder. Ich sage nur so viel dazu, dass 60% der Bewohner der Besserungsanstalt in Aszód Kinder von geschiedenen Eltern sind … Kommentar überflüssig … Die Institution der Ehe wird ihren ewigen Wert erst zurückgewinnen, wenn Frauen zu ihrer ursprünglichen Berufung zurückkehren und die auf psychologischen Kenntnissen basierende Kultur der Mentalhygiene auf alle Schichten der Gesellschaft ausgebreitet wird.
Deutsch von Orsolya Rauzs
Válságban van-e a házasság? In: Új Idők, Ostern 1947, Heft 14, S. 328–329.