Sándor Márai: Die entsetzten Arrivierten
Ich kann den Bürger verstehen, der Angst hat. Er bangt um sein Leben, um seinen Kleinkram, um seine kleinlichen Sehnsüchte und Interessen, seine trügerische Freiheit, sein Selbstbewusstsein und die kleinen Extras über das tägliche Brot hinaus. Ich kann ihn verstehen, wie er unter seinen mickrigen Schätzen sitzt und zittert, wie er die Fäden, durch die er bisher ans Leben gebunden war, langsam knäuelt. Ich kann auch den Kapitalisten verstehen, dem gerade seine moralische Grundlage, sein Existenzrecht und sein Glauben ans Leben verloren gehen, wenn das Volk, das ihm einst sein Vermögen geliehen hatte, es sich nun zurückholt. Die geheimnisvolle Anziehungskraft der neuen Weltordnung, dieser mächtigen magnetischen Kraft, erreicht alle, und jeglicher Protest verhallt wirkungslos. In der Frühlingserde keimen Samen in stillem Rauschen. Nach der Periode lautstarker Demagogie kam es zur frischen, schöpferischen Zeit von Taten. Wer mit den Arbeitern nicht mithalten kann, scheidet aus und geht zur Seite. Was aber machen die Künstler?
Wovor haben sie solche Angst? In der ersten Stunde, beim Schlag der ersten Minute, beim ersten harten und klaren Wort, beim ersten Hammerschlag, der auf die alte Ordnung fiel, wurden sie blass und schwankten. Nicht im übertragenen, stilistischen Sinne des Wortes, sondern physisch. Ich sah und sehe blasse Gesichter, aus denen das Blut entwich, sie saßen zusammen, stumm und weiß, sie kamen zusammen, steckten die Köpfe zusammen. Im Club oder woanders, untereinander. Wir hörten ihnen zu. In ihren Augen stand eine stumme Frage, die sie später – vorsichtig – sogar auszusprechen wagten: Was wird aus uns? Heute schreien sie schon, sie klopfen auf den Tisch und sich selbst auf die Brust: Wir sind auch Proletarier! Was wird aus uns? Ihr sollt für uns sorgen! Ihre Zähne klappern. Warum denn? Wenn es jemanden gibt, der in einem Staat der Schöpfung seelenruhig in die Zukunft blicken kann, dann ist es der reinste Schöpfer, der Urproduzent, der Künstler. Der wahre Künstler, der echte Arrivierte ist ja nicht bloß unter den Privilegierten „angekommen“, sondern ist erster unter Tausenden, ein Arrivierter unter Zehntausenden, da er imstande ist, die Sehnsüchte, Trauer und Ekstase eines ganzen Volkes fest in seine Arme zu schließen. Warum ist den Arrivierten hier bange? Die Schlauen, die Klugen, die mit der Sicherheit von Seiltänzern in jeder neuen gesellschaftlichen und politischen Formation ihren Platz gefunden haben, diese intellektuellen Akrobaten, diese Magier in Frack und Zylinder, die sich jüngst im Chaos der Scheinrevolution mit betörender Koketterie von einer Stunde auf die andere vom Lakaien der Bourgeoisie in einen Revolutionär umgewandelt haben – sie sind jetzt verwirrt. Was ist los, Genossen? Wovor fürchten Sie sich? Vor der Arbeit? Wovor fürchtet sich der weltberühmte Dramatiker, dem ganz Pest applaudiert hatte – werden seine Stücke ab jetzt niemandem mehr gefallen? Oder wird es etwa in den Zeitungen keine bezahlten Kritiken am Kommuniqué, kein Lob für Kumpels geben? Wird euch vielleicht ein neues, offenes und aufrichtiges Publikum zusehen und zuhören, dessen Augen noch ungetrübt sind und dessen Urteil unvoreingenommen ist, das sich nicht täuschen und durch Musik, Gesang, Effekthascherei, Sentimentalität und Schilfrohrfiedeln austricksen lässt, weil es sonst gähnt und buht? Wird Eure Arbeit nicht mehr benötigt, arrivierte Brüder? Wovor habt Ihr Angst? Der reine Künstler ist ja immer der Diener der Welt, der Letzte unter den Proletariern, der ewige Kommunist, dem alles gehört und dessen Gedanken, Sehnsüchte und dessen ganzes Leben allen gehören.
Heute fürchten sich die Arrivierten in Pest, sie sind nervös, verängstigt. Sie werden einen Grund dazu haben. Niemand hat ihnen auch nur ein Haar gekrümmt und schon laufen sie herum und sorgen sich um sich. Pest, diese Stadt, wo man mit allen „reden konnte“ und bei jedem „etwas bewirken konnte“, ist plötzlich zum unfruchtbaren Boden geworden. Aus dem Asphalt des Boulevards wachsen keine Geldbäume mehr, man muss den Asphalt aufgraben, man muss arbeiten, um das Geld zu finden. Aber den Amerikaner oder den Künstler spielen, vortäuschen, den Arrivierten imitieren kann man nicht mehr. Ihr müsst von vorne anfangen, von Fall zu Fall zeigen, wer ihr seid. Das wird eine harte Probe sein. Wer schon einmal „angekommen“ ist, möchte ausruhen und von den Zinsen leben. Wie schmerzhaft muss es sein, zu erfahren, dass man in Wahrheit gar kein Kapital gehabt hat.
Heute scherzen sie noch, die geistreichen Arrivierten. Am Tag, als das Statarium, das Kriegsrecht, verhängt wurde, nachdem das gefrorene Lächeln auf ihren Gesichtern langsam aufgetaut war, fragten sie einander spöttisch: Hast du schon gehört? Die Volkskommis riefen das Stati aus! Heute fragen sie sich inzwischen: Wovon werden wir leben? Bisher war das recht einfach: Sie brauchten nur anderen das Brot wegzunehmen. Was wird ab jetzt passieren?
Warum schweigen sie mit entsetztem Mund?
*Sämtliche obigen Schriften stammen von Schriftstellern, die nicht mehr leben. Warum also der kurze Artikel von Sándor Márai an dieser Stelle veröffentlicht wird? Der Artikel aus dem Jahre 1919 war eine Art Anklageschrift gegen die „entsetzten Arrivierten“. Im Verlauf der letzten 30 Jahre bewahrte er fast in allen Punkten seine Gültigkeit – als Anklageschrift gegen einen „entsetzten Arrivierten“: Sándor Márai von 1949, sowie gegen die Gleichgesinnten.
Deutsch von Bernadett Modrián-Horváth
A megrettent arrivék. In: Csillag, 12. 01. 1949. S. 142.