Die Gymnasiasten
- Autor*in: J. K.
- Übersetzt von: Bernadett Modrián-Horváth
- Behandelte Person: Friedrich Torberg
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1931
- Erschienen in: Korunk
- Ausgabe-Datum: 1931
- Sprachen: Deutsch
- Gattung: Rezension
Übersetzung
J. K.: Die Gymnasiasten
Endlich wurde auch ihnen ein beachtliches gebundenes Buch gewidmet und auch ihre kleine Gesellschaft hielt Einzug in die ernsthafte, problemorientierte Welt der Belletristik. Vor allem dies ist das herausragende Verdienst des Buches von Friedrich Torberg*, das in Prag so viel Aufsehen erregte. Er ließ das Feuer der Auflehnung, das während seiner Gymnasialzeit von den schweren Stunden, bitteren Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten in seiner Seele entfacht wurde, nicht erlöschen. Er vergaß nicht das beklemmende Gefühl, das die schönsten Stunden seiner Jugend vergiftet hatte: Sein Buch ist ein Ruf nach mehr Gerechtigkeit, mehr Wertschätzung und einem menschenwürdigeren Leben im Namen einer kleinen Gesellschaft.
[…]
Das Buch Friedrich Torbergs ist ein mutiges und unerbittliches Plädoyer gegen das heutige Gymnasium, dessen Leben er beschreibt und dem er ein Versagen im Umgang mit der ihm anvertrauten, heranreifenden jungen Gesellschaft vorwirft. Rein bürokratisch, ohne jegliches innere Verständnis und Gewissen überschüttet man hier die jungen Seelen mit der im Lehrplan vorgeschriebenen Masse an Wissen; dann wird das kleine Notizbuch (die berühmte Kladde) hervorgeholt und wird, als wäre dies das Wichtigste auf der Welt, trocken das „Wissen“ oder „Nichtwissen“ registriert, und später aufgrund dessen über junge Jahre, oder, was heute – wie in Gerbers Fall – nicht selten ist, über junge Leben entschieden. Dabei ist dieser Schülerroman objektiv, er gewährt Einblicke auch in die Ausgelassenheit und Unausgewogenheit der jungen Seelen, in die Streberei und Duckmäuserei guter Schüler; er schreibt nicht alles auf die Rechnung des Gymnasiums, bringt aber den Vorwurf klar zum Ausdruck, dass die Jugendlichen, vor allem diejenigen, die sich in der größten Aufruhr befinden, die Eigenständigsten, die Nachdenklichsten, die Wertvollsten, diejenigen, die nicht so leicht in die „Maschinerie“ passen, im Schulgebäude auf Unverständnis und bürokratische Verschlossenheit stoßen.
Dass das im Roman beschriebene Gymnasium und seine Lehrer als Figuren eines deutschen Realgymnasiums in Prag erkannt wurden und es deshalb zu Protesten, Auseinandersetzungen und persönlichen Anfeindungen kam, ist für uns nicht von Belang, genauso wenig die Frage, wie fair und richtig der im Roman geäußerte Vorwurf in diesem speziellen Fall ist. Uns kann nur interessieren, inwieweit Torbergs Veto in Bezug auf das Schülerleben in Europas Gymnasien verallgemeinert werden kann. Dies ist jedoch eine überaus wichtige Frage, denn das 20. Jahrhundert kann nicht dulden, dass den Jugendlichen in dem empfindlichsten und entscheidendsten Bereich der schulischen Erziehung immer noch Unverständnis, kalte Verschlossenheit, oder sogar – wie in Gerbers Fall – ausgeprägte Böswilligkeit und grundlose Quälerei zuteil wird. Die Gerechtigkeit fordert, dass letzteres gleich als ein pathologisches Symptom erkannt und isoliert wird, denn der im Roman dargestellte Lehrer kann auf diese Weise nicht mehr als normale Erscheinung betrachtet werden und soll deshalb gleich aus unseren Erörterungen bezüglich der heutigen Gymnasien ausgeschlossen werden. Selbst in der gesündesten Organisation wird es immer kranke Individuen geben, die allerdings behandelt werden müssen, anstatt auf die Jugend gehetzt zu werden. Dies kann aber nur als Ausnahme betrachtet werden. Im Fall der übrigen „strengen“, gefürchteten Lehrer muss der Vorwurf der Böswilligkeit zurückgewiesen werden, ihre pädagogische Überzeugung kann nicht in Abrede gestellt werden und wir müssen feststellen, dass sie oft Zielpunkte von ungerechtfertigten Angriffen werden. Ihr Verhalten gegenüber den Schülern wird von ihrer sehr richtigen Auffassung bestimmt, dass der menschliche Geist an Disziplin gewöhnt werden muss und die Jugendlichen nicht gewohnt sein dürfen, dass alles nach ihrem Belieben geschieht, und deshalb erlegen sie ihnen eine strenge Disziplin auch in Fächern auf, die sie nicht gern studieren und für die sie sich nicht interessieren. Wir können sogar noch weiter gehen und feststellen, dass ein solch strenger Lehrer bessere Ergebnisse bei seinen Schülern erzielt als ein so genannter „guter“ Lehrer, der seine Schüler mit ganzem Herzen verstehen will und deshalb viel unentschlossener und schwächer in seinem Handeln wirkt. Aber wir müssen gleich hinzufügen, dass dies nur im heutigen Schulsystem gilt, das im Interesse der Disziplin eine gewisse Distanz zwischen dem Katheder und den Schulbänken vorsieht. Nun, diese Distanz ist das Krebsgeschwür der Schule, denn sie führt dazu, dass die Verbitterung der jungen Seelen, ihr Kummer über ein gefühlt oder tatsächlich ungerechtes Urteil und andere Umstände, die ihre Arbeit beeinflussen, ihren Lehrern verborgen bleiben, so dass es ihnen menschlich unmöglich wird, Verständnis für sie zu finden. Die Schüler müssen unbedingt davon überzeugt sein, dass sie ihren Lehrern vertrauensvoll über jede Krise ihrer jungen Seele berichten, ihre Ansichten und ihre Bedenken äußern können. Solange diese Überzeugung nicht tief in den Seelen der Schüler verankert ist, wird jede Schulreform nur eine Illusion bleiben, das Gymnasium wird so bleiben, wie es von Friedrich Torberg dargestellt wird und kann das Todesurteil für sensible und talentierte junge Menschen wie Gerber sein. Dieses Vertrauen, das in so vielen Fällen fehlt, wäre wertvoller als jede „akademische Leistung“, deren Niveau manche bei einer Abschaffung der oben genannten Distanz bedroht sehen.
Und auch dieses Lernniveau würde sich nur erhöhen, wenn die Pädagogen, anstatt wie heute „ex cathedra“ zu unterrichten, nur Mentoren wären, die die Arbeit der Schüler kontrollieren und führen, aber deren Ausführung den Jugendlichen selbst überlassen, wenn die Klassenräume in Laboratorien, die langweiligen Sprachstunden in lebhafte Diskussionen, gewürzt mit Gesang, Witzen und Unterhaltung, umgewandelt würden, und im Erdkundeunterricht Filme gezeigt würden. All dies ist zwar sonnenklar, aber um das zu erreichen ist Geld vonnöten, und gerade dies können die europäischen Staaten, die Milliarden für Aufrüstung ausgeben, nicht für die Erziehung der nächsten Generation aufbringen. Man ist schockiert über den unverbesserlichen Wahnsinn der menschlichen Art, besser gesagt der menschlichen Gesellschaft…
Friedrich Torberg leistete eine lobenswerte Arbeit, als er die Atmosphäre der Gymnasien umrissen und um Hilfe gerufen hat. Sein Ruf darf nicht in der Wüste verhallen. Als Schriftsteller beleuchtete er das Problem mit der aufrüttelnden Kraft der Kunst, natürlich ohne nach einer Lösung oder nach einer Verbesserung der Situation zu suchen. Seine Aufgabe war die Dokumentation… Das Wecken des Gewissens… Er hat das Gymnasium zwar schon verlassen, es aber nicht vergessen wie tausend andere, die dort so viel Bitterkeit erlitten… Die Berufung des Künstlers ist, die Vergangenheit aufzuzeichnen, sie zu vergegenwärtigen, vor Augen zu führen, damit sie stört, rebelliert: er fordert eine Lösung, eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Er ruft in die Welt hinaus, dass der Schüler Gerber immer noch vor dem Abitur steht… Der Schüler Gerber, genauso wie Tausende Gleichaltrige, erlebt immer noch jene qualvollen Momente, die seine jungen Nerven innerhalb eines Jahres zerstört haben… Denn das Abitur ist an sich genommen keine unerhörte Anforderung, es verlangt keine übermenschlichen Leistungen; aber wir fragen uns, nur ganz bescheiden, warum sie zu einem so ernsthaften Akt gemacht werden soll, warum ihm mit einem grünen Tisch und über zehn Geschworenen die Stimmung einer Gerichtsverhandlung geliehen wird… wo wir doch wissen, dass schon der Fakt, dass sie sich zum ersten Mal so präsentieren müssen, für die junge Seele für genug Nervosität sorgt, und wo wir bereits so oft gesehen haben, wie Jugendliche vor Aufregung den Kopf verlieren … Warum nicht ein einfaches Gespräch mit dem Kandidaten ohne viel Aufhebens führen?!…. Um herauszufinden, wie reif sein Denken ist, wie scharf sein Urteilsvermögen ist, was ihn interessiert, erfreut, was er am liebsten mag… Was ihm Probleme, Kopfzerbrechen bereitet…? Könnte da auch passieren, dass der Kandidat wie Gerber in seiner unbändigen Aufregung aus dem Fenster im dritten Stock springt, während er darauf wartet, wie über ihn entschieden wird…? Und wenn das Gespräch zu dem Ergebnis kommt, dass der Kandidat nicht „reif“ für ein Studium sei, wäre es dann nicht gerechter und menschlicher, wiederum mit ihm zu sprechen, ihm die gemachten Erfahrungen zu erläutern, ihn zu überzeugen und gemeinsam eine andere Lösung für seine Zukunft zu finden, als diese geheimnisvolle Konferenz? Natürlich wird dies durch die Distanz verhindert, durch die berühmte Distanz, die die Autorität zerstört… Deshalb ist die Berufung eines jeden Menschen, der sich um eine bessere und menschlichere Zukunft bemüht: die rationale Zerstörung von Distanz.
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Deutsch von Bernadett Modrián-Horváth
J. K.: A középiskolások. In: Korunk, 1931, H.3, S. 226–229.