N.N.: Die Sache der „Juden“
Csernátonys „Judenartikel“ erregten auch in der regionalen Presse Aufsehen. Aus einem Artikel, der in der letzten Ausgabe der Wochenzeitung Borsod in Miskolc erschien, halten wir folgende Gedanken für erwähnenswert, weil die Sache der Magyarisierung der Juden in ihnen aus einem Blickwinkel erörtert wird, der in der Hauptstadtpresse bisher wenig beachtet wurde.
Am Anfang des Artikels wird die Beschuldigung von Cs., dass die Juden für das Vaterland nicht beten würden, zurückgewiesen, indem der schöne Text des erhabenen Gebets aus dem israelitischen Gebetbuch Wort für Wort zitiert wird. Dann geht der Artikel folgenderweise weiter:
Es ist zwar wahr, dass dieses schöne Gebet in einigen Synagogen nicht in unserer vornehmen Muttersprache gesprochen wird, sondern auf Hebräisch. Aber dass dies der Fall ist und dass wir sogar in einer solch urungarischen Stadt wie Miskolc, wo in den vielköpfigen israelitischen Familien nur Ungarisch gesprochen wird, vergeblich erwarten, dass das Wort des Herrn in der Sprache der Nation gepredigt wird, wie es doch noch vor einigen Jahren üblich war, bis die in der Gemeinde ausgebrochenen Zwistigkeiten den unvergesslichen Prediger von hier vertrieben; dass die Magyarisierung der Israeliten generell nicht so weit fortgeschritten ist, wie man es von ihnen sicherlich hätte erwarten können, da sie eigentlich weder zum großen Deutschland hin (wie die Sachsen) noch zu Panslawien hin (wie ein Teil der Slowaken) gravitieren; also dass wir in Bezug auf die Verschmelzung der Israeliten mit der Nation eher Rückschritt als Fortschritt konstatieren können, und zwar eher auf dem Lande als in der Hauptstadt (im Gegensatz zur Behauptung des Redakteurs der Tageszeitung Ellenőr) – dass all dies so und nicht anderswie ist, wem haben wir das wohl zu verdanken?
Nun, gerade die Matadoren der Parteifreunde von Csernátony waren es, die aus oppositioneller Unruhe und aus Rücksicht auf die Gewinnung neuer Parteimitglieder die landesweite Organisation der Juden Ungarns zu einer Konfession verhindern ließen und damit die einzige Möglichkeit verbauten, die Mehrheit der in der öffentlichen Bildung zurückgebliebenen Israeliten für den modernen Fortschritt, der eigentlich die Magyarisierung bedeutet, zu gewinnen.
Wo würden „unsere Juden“ heute hinsichtlich Kultur und ungarischer Nationalität stehen, wenn die vom Allgemeinen Jüdischen Kongress vorgeschlagene einheitliche Organisation Gesetzeskraft erhalten hätte? Wie wäre es, wenn unter der Leitung der besten Angehörigen, der enthusiastischen Patrioten dieser Konfession in den verschiedenen Teilen des Landes Bezirkskonvente abgehalten worden wären, die – ähnlich wie z.B. die autonomen Gemeinden der protestantischen Kirche – die Aufgabe gehabt hätten, die moralischen Interessen der einzelnen Gemeinden zu fördern und mal durch Ermutigung, mal durch Anwendung des heilsamen Zwangs des Gesetzes den Anforderungen von Bildung und Nation zu entsprechen?
Also ist es der falschen Judenpolitik der mit der Linken verbündeten Zsedényi-Partei zu verdanken, dass in den konfessionellen Angelegenheiten der Juden die größte Anarchie herrscht und dass die Priester von zahllosen Gemeinden die Herzen und Köpfe der Gläubigen mit papstähnlicher Macht in mittelalterliche Fesseln schlagen und – ähnlich wie der Rabbiner in Szikszó – am Vorabend des Versöhnungsfestes Eltern mit Anathema belegen, die ihre Kinder auf normale Schulen schicken, ihre Söhne etwas anderes als den Talmud unterrichten lassen oder sie auf Universität schicken, um Medizin oder Jura zu studieren.
Vergeblich wartet Csernátony auf die Magyarisierung der Juden, die er vom Einbürgerungsgesetz oder von der obligatorischen Einführung der Zivilehe „sehnlichst erhofft“. Ersteres reduziert die Anzahl der deutschsprachigen Juden nicht, und für das andere sind weder Juden noch Christen wegen ihres kulturellen Zustands in dem Maße reif, dass man wenigstens im nächsten Jahrzehnt grundlegende Ergebnisse erwarten könnte. Die Juden können nur durch innere Emanzipation mit Leib und Seele Ungarn werden. Die Schaffung einer solchen inneren Emanzipation schwebte unserem großen Eötvös vor, als er sein Kongressideal verwirklichen wollte, was durch das Zusammenwirken der Csernátonys, Jókais, Tiszas und Zsedényis mit den fanatischen und törichten Juden leider verhindert wurde.
In dieser Situation kann jetzt nur noch ein nationales Gesetz helfen, das der jüdischen Konfession die Art und Weise, wie sie ihre konfessionelle Autonomie ausüben darf, genauso vorschreibt wie den anderen Konfessionen im Lande. Wenn ein solches Gesetz dem weiteren Wirken der unwissenden und in mittelalterlicher Begriffsverwirrung lebenden Rabbiner ein für allemal ein Ende setzt sowie die Ordnung und den inneren Frieden in den einzelnen Gemeinden wiederherstellt, dann wird der Patriotismus der Juden, der eigentlich schon vorhanden ist, aber sich wegen der irrigen Maßnahmen des Gesetzgebers (man denke z.B. an die Debatten des Parlaments über den jüdischen Schulfonds) nicht genügend zur Geltung bringen kann, sich deutlich offenbaren – davon sollte Herr Csernátony überzeugt sein.
Deutsch von Orsolya Rauzs
N.N.: A ’zsidó’-ügy. In: Pesti Napló 03.10.1874, S. 3.