Ein Gespräch mit Gyula Illyés über Literaturpolitik, über volkstümliche Schriftsteller, über den „Ruf unserer Heimat“ und über den Zeitgeist
- Autor*in: László Bélteky
- Übersetzt von: Bernadett Modrián-Horváth
- Behandelte Person: Gyula Illyés
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1944
- Erschienen in: Magyar Nemzet
- Ausgabe-Datum: 20. 02. 1944
- Sprachen: Deutsch
- Originalsprachen: Ungarisch
- Gattung: Reportage
Übersetzung
László Bélteky: Ein Gespräch mit Gyula Illyés über Literaturpolitik, über volkstümliche Schriftsteller, über den „Ruf unserer Heimat“ und über den Zeitgeist
In einem ruhigen, kleinen Kaffeehaus sitzen sie zu viert rund um einen Marmortisch. Auf dem fast vollständig mit Manuskripten bedeckten Tisch kann der Kellner kaum Platz finden für das Serviertablett mit dem Kaffee. Dieses Bild ist immer das gleiche, seitdem es Literatur und Kaffeehäuser gibt: die Redaktion einer literarischen Zeitschrift… Es gibt aber durchaus auch feinere Details, die es in Betracht zu ziehen gilt. Zum Beispiel, dass besagtes Kaffeehaus unter den gleichartigen „Institutionen“ von Budapest vielleicht der nüchternste, der bürgerlichste Ort ist. Oder, dass hier der literarische Tisch nicht von strubbeligen, hitzköpfigen Weltrettern, sondern von gepflegten, ehrwürdigen Männern umgeben ist, die in gebügelter Kleidung und mit perfekt gebundener Krawatte dasitzen. Und nicht zuletzt ist selbst der Zeitpunkt der Versammlung vielsagend: Vom Kellner wird nämlich kein Absinth, und nicht einmal Kaffee mit Rum serviert, sondern einfach Kaffee. Milchkaffee wie er morgens getrunken wird. Und der Duft verrät sogar, dass selbst dieser aus Gerste gekocht wurde. An diesem Tisch wird also von sehr ernsthaften Personen eine sehr ernsthafte literarische Zeitschrift redigiert.
Das kann auch nicht anders sein!
Es sind Gyula Illyés, Chefredakteur der Zeitschrift Magyar Csillag und sein engster Kreis, die rund um den Tisch sitzen. Der Autor von Die Puszta, der Biografie Petőfi und so vieler großartiger ungarischer Bücher redigiert hier, in der Nachfolge der traditionsreichen Nyugat, der bedeutendsten ungarischen literarischen Zeitschrift. Ich möchte sie nicht stören, so bitte ich Herrn Illyés, sich für einige Minuten an meinen Tisch zu begeben, um der Zeitung Magyar Nemzet ein Interview zu geben. Zunächst frage ich ihn, ob er zufrieden sei mit jenem Zusammenschluss geistiger Kräfte, die er seinerzeit selbst initiiert hatte.
– Wer unsere Zeitschrift aufblättert und die Namen Sándor Márai, Péter Veres, László Németh, László Cs. Szabó und Dezső Keresztury nebeneinander sieht, kann sofort feststellen, dass die Gegensätze zwischen volkstümlichen und urbanen Schriftstellern nur in der Politik existieren, falls mit Gegensätzen Streitigkeiten gemeint sind – sagt Gyula Illyés. – Wir haben es tatsächlich geschafft, die Zeitschrift Magyar Csillag zu einem freien Forum geistiger Kräfte zu machen. Dafür hatten wir unsere Zauberformeln. Wir sind vielleicht die Einzigen, die keine Hinrichtungen fordern, niemandem drohen, niemanden denunzieren und sogar andere zu überzeugen versuchen, diese nicht gerade als geistig zu bezeichnenden Tätigkeiten zu unterlassen. Dass unsere Mission erfüllt wurde, kann sicherlich auf ein mutiges und außerordentliches Verhalten zurückgeführt werden, und nun können wir sogar behaupten, den anderen Schwerpunkt des ursprünglichen Programms, die harte Kritik, verwirklicht zu haben.
[…]
– Welche Berufung der ungarischen Literatur sehen Sie in der heutigen Situation?
Er spricht langsam, präzise, er formuliert seine Gedanken fehlerfrei, als ob er diktieren würde.
– Der Wille einer Nation hat zwei Hauptausdrucksformen: das Parlament und die Literatur. Und die Gefahr, von der der Parlamentarismus in letzter Zeit bedroht wurde, bedrohte auch die Meinungsfreiheit in der Literatur. Die Leidenschaften haben Oberhand gewonnen, wo allein die Vernunft das Sagen hat. Ich denke, dies konnte von der Magyar Csillag bewahrt werden, genauso wie die Meinungsfreiheit. Davon zeugen zumindest die Angriffe, die sowohl von der rechten als auch von der linken Seite auf uns gerichtet werden. Es ist sehr wichtig, dass es in Ungarn eine Zeitschrift gibt, die von allen unabhängig ist, in erster Linie vom Großkapital, von den politischen Parteien und von der Regierung, denn nur dies ermöglicht den Ausdruck der literarischen Wahrheit. Uns könnte man nur beleidigen, indem man uns die Unabhängigkeit abstritte! Wir sind stolz darauf, dass unsere Zeitschrift kein kommerzielles Unternehmen ist, und sein ständiges Defizit durch die freiwillige Arbeit einiger Mitarbeiter ausgeglichen wird.
– Warum bedarf es einer volkstümlichen Literatur und was sehen Sie dahinter? – lautet die nächste Frage.
– Die Literatur ist gezwungen, auch Aufgaben des öffentlichen Lebens zu übernehmen, sobald ein Organ des öffentlichen Lebens nicht mehr intakt funktioniert… In Folge verschiedener historischer Entwicklungen wurde das arme ungarische Bauerntum völlig wehrlos. Es ist also natürlich, dass die Literatur, die immer gleichzeitig unser Gewissen ist, gezwungen wurde – ja, „gezwungen“ ist das richtige Wort –, sich für das Volk einzusetzen.
– Es gibt und gab viele Diskussionen darüber, wer als volkstümlicher Schriftsteller gilt – wende ich ein.
Herr Illyés definiert den Begriff wie folgt:
– Ein volkstümlicher Schriftsteller ist, wer auf Grund seiner eigenen Erfahrungen dem Wohl des Volkes dient. Ein jeder kann zu einer beliebigen Zeit zum volkstümlichen Schriftsteller werden, er soll nur unter die Bauern gehen und genügend Erlebnisse und Mut sammeln.
Hier möchte ich einen kleinen Streit provozieren, so erwidere ich:
– In letzter Zeit gibt es wieder viele Vorwürfe gegenüber den Bauern; es wird ihnen neben ihren eigenartigen Fehlern und negativen Eigenschaften vorgeworfen, nicht nur keine Dorfgemeinde, sondern auch keine Straßengemeinde bilden zu können.
– Diese Vorwürfe und die Angriffe, die aufgrund der Vorwürfe auf die volkstümlichen Schriftsteller gerichtet werden, sind nicht neu. Teils sind sie auf Unkenntnis oder Unverständnis für die Bauern, teils auf Böswilligkeit zurückzuführen. Zweifellos hat auch das ungarische Bauerntum seine Fehler, trotzdem ist es die gesündeste gesellschaftliche Schicht in Ungarn, auf die gebaut werden kann. Dafür spricht auch der Fakt, dass die sogenannten modischen Strömungen im Kreis des Bauerntums keine Wurzeln schlagen konnten, während sie zum Beispiel die Mittelschicht völlig verseucht haben…
– Ad vocem, modische Strömungen! Hat der sogenannte „Zeitgeist“ eine Wirkung auf unsere Literatur hinterlassen?
– Hinsichtlich des literarischen Ertrags wenig, eher in Form von Ablehnung – meint Gyula Illyés. – Dies war auch zu erwarten, denn die meisten sogenannten „Zeitgeister“ sind zugegebenermaßen antiliterarische Strömungen, die der Kraft des Geistes die Propaganda entgegensetzen. Und diese braucht nur noch Verräter als Schriftsteller, doch ein Schriftsteller kann kein Verräter werden, schon aus dem einfachen Grund, dass er kein Schriftsteller mehr ist, wenn er seinen Stand als Schriftsteller verrät! Der Schriftsteller hat seine Unabhängigkeit gegenüber jeglichem Zeitgeist zu bewahren. In meinen Augen ist derjenige Schriftsteller mutig, der sich sogar seinem engsten Milieu, seiner eigenen Heimat, seinem eigenen Dorf widersetzen kann. Es ist großartig, der Welt zu trotzen, aber noch großartiger ist es, wenn wir unserer eigenen Familie trotzen können!
[…]
– Hätten Sie gedacht, dass „unser Ruf in der Welt“ hierzulande auf ein so breites Echo stößt; wird diese Diskussion wohl irgendwelche positiven Wirkungen haben?
– Nun sehe ich, wie kompliziert Dinge sein können, die man als einfach gedacht hat, und wie gewaltig die Wahrheit knallen kann, schon allein dadurch, dass sie gesagt wird. Bereits als junger Mann versuchte ich immer wieder, den Ungarn zu sagen, wo sie sich eigentlich befinden. Sie wähnen sich nämlich irgendwo zwischen Frankreich und England, weil sie, wie sie meinen, etwa disziplinierter als die Franzosen, aber doch lockerer als die Engländer seien. Leider ist Ungarn auch in geistiger Hinsicht dort, wo es sich geografisch befindet, nämlich ungefähr zwischen Lemberg und Niš. Aus dieser Situation soll das Land in Richtung Westen gebracht werden, dies kann aber nur passieren, wenn wir uns ehrlich gestehen, wo wir uns eigentlich befinden. Wie nahe ein Land dem Westen oder dem Osten ist, wird immer von den dort lebenden Menschen bestimmt. Mit dem Tod von Babits, Kosztolányi und Móricz geriet Ungarn zum Beispiel mindestens hundert Kilometer südostwärts…
[…]
Ein kurzes Händeschütteln, und schon eilt er zurück zum anderen Tisch, an dem im Kaffeehausrauch über die Zusammenstellung der neuesten Nummer der Magyar Csillag beraten wird.
Deutsch von Bernadett Modrián-Horváth
Beszélgetés Illyés Gyulával irodalompolitikáról, népi írókról, „hazánk híréről” és a korszellemről. In: Magyar Nemzet, 20.02.1944, S. 6.