Erotische Kunst und künstlerische Erotik
- Autor*in: Béla Balázs
- Übersetzt von: Amália Kerekes
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1914
- Erschienen in: Nyugat
- Ausgabe-Datum: 1914
- Entstehungsjahr: 1914
- Sprachen: Deutsch
- Originalsprachen: Ungarisch
- Verfügbarkeit: Arcanum
- Gattung: Artikel
Übersetzung
Béla Balázs: Erotische Kunst und künstlerische Erotik [Auszug]
Es gibt noch immer laute und wirksame theoretische Einwände gegen die erotische Kunst, die ihr den Weg versperren, ihr bürgerliches Recht unter den anderen Künsten zurückzugewinnen, in dessen Rahmen sie mit ihnen Jahrhunderte lang als gleich erachtet wurde. Es wird ihr dreierlei entgegengehalten: 1. Sie setze unsere Sinnlichkeit unter Hochspannung und entfessle unser tierisches Wesen und gefährde damit die allgemeine Sittlichkeit. 2. Die Jugend müsse auf jeden Fall vor ihr behütet werden. 3. Sie könne keinen reinen künstlerischen Genuß hervorrufen, denn sie ließe an „etwas anderes“ denken.
Fangen wir unsere Antwort mit dem letzten Einwand an. Unserer Ansicht nach ist jede Schönheit nur Mittel, Methode, womit der Künstler in uns Assoziationen erweckt, und das ist ihr einziger Inhalt. Die Linie bleibt Linie und der Rhythmus nur ein Klirren, solange durch sie das unbewußte Gefühl der tausend „etwas anderen“ nicht zur Musik wird. Linien wirken auf uns weder ein, noch rütteln sie uns auf, allein dem Leben, das in sie hineingezaubert ist und dessen hundertfältig zergehende, flüchtige Elemente uns hier in einem einzigen Gefühl schmerzen können, gelingt dies.
Mag es daran liegen, daß die von der erotischen Kunst geweckten Assoziationen sinnliche Affekte auslösen? Würde das den reinen „Kunstgenuß“ stören? Sogar die Künste ohne erotischen Gegenstand haben sinnliche, zumal erotische Wirkung. Und wer mit seiner Hand noch nie in gezeichnete Haare fahren wollte, wer noch nie in ein gemaltes Laub beißen wollte, hat noch nie ein Bild genossen. Wir haben Hunderte von Dokumenten aus intimen Aufzeichnungen von Künstlern, die während der Arbeit eine körperliche Vereinigung mit ihrem Thema spürten. Nicht nur die Maler, sondern auch die Philosophen genießen die Natur mit mystischer Erotik. Und mag der Blödsinn der Naturwissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts, der das ganze heilige Wunder der Kunst als Nebenprodukt des Gattungserhaltungstriebs deklarierte und Michelangelo mit der Biologie erklärte, noch so sehr anwidern: Müsste man unter den beiden Auffassungen wählen, würden wir wohl das Lied der seinem Pärchen singenden Nachtigall, das Glühen des verliebten Maikäfers, die Farbenpracht des entflammten Pfaus für verwandter mit der Kunst halten, als die „vergeistigte jungfräuliche Objektivität“ der Hüter des Elfenbeinturmes. Tolstoj hatte vollkommen recht. Die Musik peitscht in der Tat den Geschlechtstrieb auf. In der Kreuzersonate zeichnete er das treue Entwicklungsbild dieses Prozesses nach. Tolstoj hatte nur an einem Punkt unrecht: daß es schlimm sei. Warum sollte es denn schlimm sein? Mann und Frau sehnen sich nacheinander. Das ist die Ordnung der Natur. Also, je größer die Sehnsucht, desto höher die Ordnung. Gesetz ist, was stärker wird. Und je kräftiger, gesünder, kultivierter man ist, desto sorgloser kann man sich den Frühlingswinden aller Begierden überlassen. Der recht ernste und auch wohl recht strenge Burkhardt macht uns darauf aufmerksam, daß wir aus der von Boccaccio dokumentierten Tatsache keine Rückschlüsse auf den moralischen Verfall der Gesellschaft der italienischen Renaissance ziehen sollen, daß der sich die edlen Jungen und Mädchen über pikante Geschichten amüsierten. Denn die Modeerscheinung der Scham hat nichts mit Moral zu tun, und auch die Moral ist (wie wir es seit Nietzsche wissen) nur die triebhafte Selbstverteidigung der schwächer werdenden Gesellschaft.
Gewiß wird dieser ganze Problemkreis immer aktueller. Gewiß hat sich unsere antisexuelle christliche Kultur in den vergangenen Dezennien gewissermaßen hellenisiert. Unsere Kleider sind enger und dürftiger geworden. Unsere Tänzerinnen sind ja bereits nackt. Auch die Gesellschaftstänze sind immer freizügiger. Die Kunst kann sich immer mehr „Freiheiten“ nehmen. Die gemeinsamen Bäder, das Aufblühen der Nacktkultur-Sanatorien markieren den Anfang einer neuen sexuellen Koedukation. Und damit wir uns nicht weiter täuschen können, hat uns der Freudismus auch die Seelen entblößt.
Gewiß gehört zu den aktuellsten Aufgaben unserer heutigen Kultur eine neue Stellungnahme zur Erotik, die Hervorbringung eines neuen allgemeinen Schamgefühls, einer neuen sexuellen Moral. Gewiß, und sofern sich nicht urplötzlich ein neuer asketischer Fanatismus unter den Weißen entfachen sollte, sind die Schutzwälle, die die Erotik verbergen, nunmehr nicht zu halten. Das ist keine Theorie, das ist Geschichte. Wir sehen die Verwandlung unserer Gewohnheiten und Urteile, die Unsicherheit, die unter ihnen herrscht. Wir sehen, daß wir uns in einem unhaltbaren „Zustand des Überganges“ befinden, und lauern gespannt, wie auf die Zifern der Stromuhr, wann sie nun endlich weiterspringen: wann die neue Ordnung anerkannt und kodifiziert wird. (Wie geschieht so etwas? Wie gut wäre es, den Prozeß der Geschichte ein wenig voraussehen zu können.)
Denn die Verwandlung unserer Sitten und Schamgefühle, denen das besorgte Veto vergeblich etwas entgegenzustellen versucht, sind rein historisch. Unserer Beruhigung dürfte es vielleicht dienen, was wir auf unsere zwei ersten Sorgen antworten können. Sollte die Erotik maßlos sein, kann sie gewiß nur durch etwas Natürliches gebremst werden – durch die Nacktheit. Wer je in einem Nacktkultur-Sanatorium war, versteht es. Was nun den Schutz der Jugend anbelangt, ist es nicht so selbstverständlich, daß ihm die Erwachsenen alles unterzuordnen haben. Der „Schutz der Jugend“ hat einen Grad erreicht, von dem danach das Daseinsrecht der Erwachsenen zu schützen sein wird, der im „Jahrhundert des Kindes“ bereits die Freiheit der Erwachsenen bedroht. Das ist vorerst ein unerledigtes Problem.
Was nun die Gefahr der erotischen Kunst betrifft, kann es tatsächlich wahr sein, daß sie „unserem animalischen Wesen entspringt und es ernährt“? – Denn nichts steht dem Animalischen wohl ferner, es gibt nichts Geistigeres, Menschlicheres als die erotische Kunst, oder gar (von diesem Standpunkt aus gleichwohl) als die kunstlose Pornographie. Es ist die fast dämonische Arbeit des menschlichen Geistes, daß er diesen vegetativsten Teil des Lebens in das Bewußtsein integrieren will. Denn zweifelsohne ist es die Seele, die die körperliche Lust nicht nur fühlen, sondern sehen, wissen will. Nicht das Tier braucht dieses Bild. Das Tier braucht die fleischliche Wahrheit. Es gibt jedoch auch schon beinahe naturwidrige Menschen, die sich von der Wahrheit ab- und dem Bild zuwenden. Denn in unserem Bewußtsein von uns sind wir nicht die Opfer, sondern die Herren der Natur, und können alles verschönern.
Und hier könnte die erotische Kunst eine so große, erlösende Mission haben, zu deren Güte wir nichts Vergleichbares von der Kunst erhalten haben. Wenn wir die erotischen Bilder nicht verfolgten oder versteckten, wenn wir sie nicht schändeten oder uns für sie schämten, wenn wir sie zu unserer freien und würdigen Aufgabe machten und damit die Schönheitsvisionen unserer größten Künstler für die Erotik freimachen könnten – dann könnten wir endlich von der Kunst lernen, als schön zu betrachten, was unsere heutige Kulturmenschheit nicht als solches betrachten kann und damit auch die Ursachen von Millionen stillen Tragödien, Hysterien, Gefühlsstörungen beseitigen. Denn auch bisher hat uns die Kunst die Natur schön erscheinen lassen. Als es noch keine Landschaftsmalerei gab, ergötzte sich niemand an der Landschaft. Die Griechen fanden den Schmerz häßlich. Die christliche Kunst hat uns dazu erzogen, auch im Schmerz die Schönheit zu erblicken. Bis zur jüngsten Zeit galt die Arbeit, die schwere, schweißerregende Arbeit als häßlich. Erst Millet, Meunier und Frank Brangwin haben uns die Augen so geöffnet, daß der unter der Last gekrümmte Bauer, der Bergarbeiter mit der Axt in der Hand und die wilde Monumentalität der Maschinen nun schön geworden sind. Wir kennen Wildes Theorie, der zufolge selbst ein Gesicht erst nach dem Porträt entsteht. Die Kunst gestaltet und verschönert die Natur, und würden wir ihr goldenes Licht auf dieses bekannte Geheimnis richten, auf dieses offene Rätsel, auf diesen wichtigsten und verstümmeltsten Teil unseres Lebens, der in der Dunkelheit verblaßt und verdirbt, wäre dies keine ungeheuerliche Erlösung? Jede weitere Rede erübrigt sich hier wohl. Wir wissen, welche Verletzungen es den Nerven und der Seele der kultivierten Menschheit zufügt, daß dieses Unvermeidliche so unlenksam schön sein kann. Es ist eine schreckliche Tragödie, daß das von unserer Natur aus am meisten Erwünschenswerte nicht zugleich auch das Schönste ist. Viele feinfühlige Frauen könnten davon erzählen, was für eine schreckliche Demütigung es ist: sich nach etwas sehnen und etwas tun, was ihren Geschmack verletzt und wofür sie sich vielleicht selbst hassen werden. Den Griechen waren solche Tragödien wohl unbekannt. Auch uns kann nur die Kunst helfen. Alle Schönheit der Natur ist künstlerische Einsicht und nur eine freie, kultiviert erotische Kunst könnte künstlerische Erotik entwickeln.
Man könnte mir entgegnen, daß die bisher bekannte erotische Kunst wohl nur selten verschönernd wirkt. Sie ist eher grotesk und humorvoll. Das ist wahr. Aber dies erklärt sich auch daraus, daß sie verboten war und darum einem elenden Trotzgefühl entsprang. Es ist jedoch ein interessantes Problem, daß es eben auch kein anderes Gebiet menschlichen Lebens gibt, das für den Humor so viel Material böte wie die Erotik. Warum? Warum sind diese Ferkeleien so gut, und wie ist es zu erklären, daß von den Novellen Bandellos bis zu den contes drolatiques Balzacs neunzig Prozent aller erotischen Erzählungen humoristisch sind? Erstens ist ja alles komisch, was sonderbar, weil ungewöhnlich ist. Heute spielt sich ja das ganze erotische Leben im Verborgenen und Geheimen ab, ist also überraschend und sonderbar, wenn es einmal zum Vorschein tritt. Zweitens ist am Menschen alles komisch, was dissonant (komisch oder tragisch), was dem Stil des Ganzen fremd ist. Der Stil unserer Kultur ist wohl: uns so zu zeigen, als hätten wir keine Ahnung von der Erotik, als wären wir keine sexuellen Wesen. Darum wirkt es komisch, gewissermaßen wie eine Enthüllung, wenn sie sich dann plötzlich doch zeigt. Die Griechen entdeckten darin sicherlich weniger Komik. Die Erotik einer Kokotte ist heute auch nicht komisch, weil selbstverständlich, aber, behaupten wir, die eines respektvollen und strengen Ehrenhüters ist es hinwiederum schon. Drittens: es reizt unwiderstehlich zum Lachen, wenn wir etwas tun müssen, ob wir es wollen oder nicht (wenn es nicht gefährlich oder unangenehm ist). Komisch ist es bereits, daß wir unserem Geschlechtstrieb ausgeliefert sind, macht er uns doch alle zu Marionetten. Aber die Tatsache, daß wir über nichts anderes derart wohlwollend lachen können als über die Erotik, verwandelt letztlich all diesen Humor und dieses Lachen in warme Sympathie. Denn in jedem anderen Fall ist das Lachen Kritik. Es verurteilt oder zumindest diskreditiert das, was lächerlich gemacht wird. Aber hier? Nur hier können wir so ruhig und frei lachen. Das hier können wir nicht verurteilen, das werden wir nie entwerten. Das ist eine derart unerschütterliche, ewige Wirklichkeit, daß die Wellen unseres Gelächters ihr keinen Schaden zufügen. Der erotische Humor ist der harmloseste und wohlwollendste.
Die Lehre also… Lehre sollten wir eventuell doch nicht so schnell ziehen. Dazu ist das Problem noch allzu virulent. Aber daß der Freiheitskampf der Erotik Tag für Tag triumphaler gerät, können wir bereits jetzt ersehen. Er hat eine einzige natürliche Bremse, die Nacktheit: körperliche und seelische Offenheit. Der Freudismus hat uns das schrecklichste Bild der Schändlichkeit verborgener und unterdrückter Sexualität offenbart: Die hinter Dämmen aufgestaute Erotik überflutet letztlich alle Tiefen und Höhen unseres Geistes und unserer Seele. Dies mündet ist eine noch schrecklichere Verheerung, als jene, die einst der Zorn der thrakischen Dionysos-Feste oder die Wildheit der babylonischen Astra-Kulte hätten verursachen können. Der Freudismus hat unrecht. Nicht alles ist Erotik. Der menschliche Geist hat eine fernere, höher stehende, jungfräuliche Inspiration. Darum ist es unerträglich und demütigend, wenn in ihm die Unruhen der unterdrückten Erotik zum Problem werden. Denn wir wollen Menschen sein, die Hüter der transzendenten Beziehung unseres metaphysischen Wesens. Darum ist es uns auch nicht wichtig, was in uns Tier oder Pflanze ist. Wir lassen es gewähren wie unseren Pulsschlag und den Atemzug aus unserer tiefsten Brust.
Übersetzt von Amália Kerekes
In: Balázs, Béla: Erotikus művészet és művészi erotika [Auszug]. In: Nyugat 1914, H. 6, S. 421-424.
Quelle: Kerekes, Amália/Millner, Alexandra/Orosz, Magdolna/Teller, Katalin (Hg.): Mehr oder Weininger. Eine Textoffensive aus Österreich/Ungarn. Wien: Braumüller 2005, S. 49–53.