Gemeinsam in der Revolution (Ausschnitt aus ihren Memoiren)
- Autor*in: Katinka Károlyi
- Übersetzt von: Karin Fritzsche
- Entstehungsjahr: 1918
- Sprachen: Deutsch
- Gattung: Tagebuch
Übersetzung
Katinka Károlyi: Gemeinsam in der Revolution
(Ausschnitt aus ihren Memoiren)
Früh am Morgen, um halb sechs, riß man Mihály aus dem Schlaf: die Soldaten bereiten einen Putsch vor. Sie wollen alle öffentlichen Gebäude besetzen, eine selbständige ungarische Armee ausrufen und Mihálys Ernennung fordern. An der Spitze dieses Soldatenrates stehe Csernyák. Mihály sagte ihnen, daß jetzt der Sonderfrieden und die Lösung von Deutschland komme, daß ihren Forderungen entsprochen würde; es gehe also jetzt nur noch um seine Person, derentwegen man keine Revolution machen dürfe. Die Soldaten waren damit nicht zufrieden und erklärten, hier sei die Person das Programm, und einem anderen würden sie nicht vertrauen. Wenn man die Reformen jetzt nicht ernsthaft durchführe, dann würden wir nie erreichen, was man jetzt erreichen könnte. Mihály bat sie abzuwarten, er hoffte, die Friedensnote würde beruhigend wirken und die Gemüter besänftigen. Aber das Gegenteil geschah. Die Zeitungen schenkten ihr keine Beachtung, das Volk murrte weiter und hängte sich ganz an Mihálys Person.
Mihály ging mit Batthyány und Lovászy zum Erzherzog Josef und erklärte, daß er die Situation bis heute abend noch in der Hand habe, doch ab morgen würde er keinerlei Verantwortung mehr übernehmen. Erzherzog Josef hatte den Auftrag, das Programm Mihálys zu realisieren, doch ohne Mihálys Ernennung. Wir riefen Gyuri ins Kasino, und Mihály sagte ihm, er sehe sich vor zwei Alternativen gestellt. Die eine heißt, an die Spitze der Revolution zu gelangen, oder abzutreten, und dann wird das verbitterte Volk ohne einen Führer entweder in die Hände von Verrätern fallen oder eine Räteregierung ausrufen. Diese würde sehr schnell von der Entente niedergeschlagen, und das wird enorm viele Menschenleben kosten. Darauf sagte Gyuri, Vázsonyi und Apponyi wollten jetzt bereits Mihály. Gyuri ging sofort zu János Hadik und versuchte, auch den Erzherzog zu bewegen, Verständnis für die Situation aufzubringen.
Wenn Mihály an der Spitze steht, kann er noch helfen, und der kann die Prinzipien, für die wir jahrelang gekämpft haben, noch ohne Unterhandlungen durchsetzen. Wenn er sich jetzt zurückzieht, dann geschieht dies über seinen Kopf hinweg, unter der Führung von Garami und seinen Leuten, die für jeden Handel zu haben sind, denen wir nie vertraut haben. Das muß verhindert werden. Abends rief man ihn wie der zum Erzherzog. Vázsonyi, Hadik, Gyuri usw. machten den Vorschlag, eine Regierung Károlyi zu bilden, in der das Justizministerium, das Innenministerium und das Verteidigungsministerium in die Hände der Károlyi-Partei gelangen sollten.
Heute war Mihály beim Erzherzog, der nun vorerst Palatin sein will, doch es scheint so, daß er auch König sein will. Er hält Mihály damit hin, daß er ihn ernennt, wenn er Palatin wird. Gestern abend, als Mihály beim Erzherzog war, versammelte sich eine große Menge auf dem Gizellaplatz vor dem Parteilokal, und sie entschieden, zur Donau zu gehen und dort für Mihálys Ernennung zum Ministerpräsidenten zu demonstrieren. Als sie zur Kettenbrücke kamen, durchbrachen sie die Absperrung und vermischten sich mit den dort stehenden Soldaten. Die invaliden Soldaten gingen vorn, und alle ließen Károlyi hochleben. Dar auf erschienen Polizeieinheiten und begannen, auf das Volk zu schießen. Es gab drei Tote und siebzig Verletzte. Die Verletzten wurden bis zum Hotel Vadászkürt getrieben, dann las man sie auf und brachte sie ins Parteilokal. Die Straßen waren voller Blut und schreiender Menschen. Drei Offiziere kamen zum Äußersten entschlossen zu uns gelaufen. László Beöthy verlor völlig den Kopf. Er sagte, die Revolution sei nicht gut organisiert, und Lukachich sei der grausamste Mensch, man würde sie alle hängen. Mihály telefonierte mit László Fényes, er solle die Massen beruhigen.
Mihály war gerade hier, und er sagte mir nur so viel, die Arbeiter von Csepel hätten die Munitionslager aufgebrochen und kämen bewaffnet Richtung Pest. Mihály ist ihnen entgegengegangen, doch er befürchtet, es ist schon zu spät. Angeblich ist die Armee schon gegen sie ausgerückt. An Mihálys Stelle würde ich sie lassen, denn erst wenn etwas passiert, werden diese Verrückten einsehen, daß man nachgeben muß. Im Krieg sind auch Millionen gefallen, da können für die Schaffung der neuen Welt schon einige hundert Menschen sterben. Jetzt ist J. hier. Er meint, morgen würden die Mannschaften der Schiffe meutern und die Monitorboote an der Donau besetzen. Der Soldatenrat erklärte, die Soldaten schuldeten nur dem Nationalrat ihren Gehorsam. In Pula rebellierte die Mannschaft und erwartet nun von Mihály ihre Befehle. Aus Kroatien flüchten die Ungarn, man zerstört die Dörfer und Ländereien. Mihály bekam eine Depesche, er solle Truppen schicken, um die Anarchie zu beenden.
1918
Deutsch von Karin Fritzsche
Quelle: Budapester Coctail. Literatur, Kunst, Humor 1900 – 1945. Hg. v. Aranka Ugrin und Kálmán Vargha. Budapest: Corvina.
Die Rechtsinhaber*innen konnten nach einer sorgfältigen Suche nicht festgestellt und ausfindig gemacht werden.