Geschichten aus dem Ghetto
- Autor*in: Viktor Némethy
- Übersetzt von: Márta Horváth
- Behandelte Person: Egon Erwin Kisch
- Publikationsdaten: Ort: Budapest | Jahr: 1935
- Erschienen in: Gondolat
- Ausgabe-Datum: 06. 1935
- Sprachen: Deutsch
- Gattung: Erzählung
Übersetzung
Viktor Némethy: Geschichten aus dem Ghetto
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Es ist ein Irrtum zu glauben, wie Egon Erwin Kisch einmal sagte, dass die Reportage, die ein wahrheitsgetreues Bild unseres Lebens und unserer Gesellschaft vermitteln will, allein die Aufgabe hat, die harte Realität von Elend und Leid zu zeigen. Unser Ziel ist es nicht, die Gutherzigen zu bewegen, und viel mehr erreichen wir damit auch nicht, wenn wir uns mit vollem Mund beschweren, warum es so und nicht anders ist. Der Bericht muss die Geschichte und die gesamte gesellschaftliche Entwicklung seines Gegenstandes darlegen, und das aus strengen Fakten und Realitätsausschnitten bestehende Material muss für sich selbst sprechen. Eine solche Reportage soll durch die Darstellung von nackten Tatsachen spannend gemacht werden.
Die Schriften von Kisch haben einen ungewöhnlich großen Leserkreis. Seine Berichte haben etwas von einem Geheimnis, so heißt es, seine Schriften sind fesselnd von der ersten bis zur letzten Zeile. Nun, das Geheimnis von Kischs Berichten ist, dass er seinen Gegenstand anders als seine bürgerlichen Kollegen sieht. Für den bürgerlichen Reporter sind die Ereignisse und Geschichten bestenfalls interessant. Die Geschichten über die Quecksilberminen in Spanien oder das Baden in Lourdes sind farbenfroh geschrieben, aber bei Kisch werden dieselben Themen zu einer tiefgreifenden Gesellschaftskritik verdichtet, ohne ihre Lebendigkeit zu verlieren. Andere mögen schreiben, dass die Arbeiter in den Quecksilberminen mit dreißig Jahren ergrauen, die beiläufige Bemerkung von Kisch aber, dass auch ohne Altersversicherung Tausende von Menschen um diesen elenden Job betteln, sagt viel mehr. Natürlich gibt es heute keine großzügigen Monarchen mehr, die bereit sind, für ihre Mätressen einen ganzen Quecksilberbrunnen herbeizuzaubern. Es ist eine trockene Tatsache, dass die Arbeiter keine Schutzausrüstung haben, sie bekommt aber durch die Beschreibung der Fabrikhalle, in der riesige, mehrfarbige, künstlerisch gestaltete Plakate die Arbeiter vor Alkoholkonsum und Rauchen zum Schutz ihrer Gesundheit warnen, Flügel.
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Er [Kisch] nimmt uns an die Hand und führt uns in die Heimat von Weltberühmtheiten, zur Seide von Lyon, zu den Diamanten von Amsterdam, zur tschechischen Glasperle, zum Roulette-Tisch von Monte Carlo und zu dem vierfach klassischen belgischen Kohlefeld…. den klassischen Schauplätzen der größten Bergwerksexplosionen, der meisten Bergmannstode, der berühmtesten Schlachten, der sozialen Kunst und der Arbeiterbewegung. Wie schön diese klassischen Berühmtheiten ineinandergreifen! Wie sehr sie sich gegenseitig beanspruchen, wie unaufhaltsam sie auseinander folgen!
„Eintritt verboten“. Das ist der Titel eines Buches mit Berichten, die die Schranken von Illusion und Blindheit durchbrechen. Verboten ist nicht der Eintritt durch die Tür, durch die Kisch hineingegangen ist, so wie jeder andere Reporter hineingegangen wäre. Kisch weiß, dass die Türen der grausamen Zusammenhänge, die er aufgestemmt hat, verriegelt sind. Es ist erlaubt, das Haus der Berühmtheiten zu besuchen, aber es ist mehr als unhöflich aufzudecken, dass die feinen Fasern der Lyoner Seide nicht nur an den duftenden Körpern von Frauen haften bleiben, sondern sich auch in den Bronchien der jungen Weberinnen festsetzen und die Tuberkulose-Rate stark erhöhen können. Wer würde es schon über die Lyoner Seide denken?…
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In seinem neuesten Buch „Geschichten aus Sieben Ghettos“ legt Kisch nach Jahrzehnten ernster, spannender Kämpfe eine Pause ein. Mit Ausnahme einiger Artikel enthält das Buch leichte, humorvolle Erzählungen, die aus alten Aufzeichnungen des „rasenden Reporters“ stammen, der sich seinem fünfzigsten Lebensjahr nähert. In ihnen ist das für Kisch so charakteristische Leitmotiv nicht zu finden. Er versucht nicht, ein umfassendes Bild über die Juden zu zeichnen. Er ist fasziniert von der Bedeutsamkeit, der Groteske und dem tiefgreifenden Humor des Themas. Jüdische Geschichten aus ganz Europa werden nebeneinander geworfen: die mittelalterliche Inquisition, die jüdischen Gräber der Französischen Revolution, der Golem, die Ghettos von Amsterdam und Paris, die typischen und amüsanten Geschichten des polnischen und tschechischen Judentums. Sie sind nicht mit überlegenem Spott, sondern eher mit Mitgefühl geschrieben. Natürlich gibt es in dem Buch auch ernsthafte Geschichten. In „Den Golem wiederzuerwecken“ schildert er den kalten und prosaischen Tod dieses mystischen Idols des Judentums.
Kischs Interesse gilt der dialektischen Reportage, einem Genre, das eigentlich von ihm erfunden wurde.
Die dialektische Reportage ist weder Fiktion noch Abhandlung. Kisch hätte seine Berichte belletristisch aufpolieren können, denn er hat die Fähigkeit dazu, wie es sein jüngstes Buch eindeutig beweist. Aber er ist der Meinung, dass es eine Täuschung wäre, durch Leidenschaft und Temperament Wirkung zu erzielen. Er findet das, was sich kein bürgerlicher Reporter entgehen lässt, unwürdig für seine Themen. Seine Reportage muss ohne diese Hilfsmittel, allein durch die Kraft der Fakten, auskommen. Als Beweis sollte dafür eine seiner Schriften konkret zitiert werden. Im richtigen Moment erzählt Kisch von einem Denkmal, einem Raum, einer Person, so dass seine Geschichte auch als Historie zu einem integralen Bestandteil des Berichts wird. Er spricht von Fakten und Zusammenhängen, die anscheinend nichts mit dem Thema zu tun haben, deren Bedeutung aber der Leser später erkennt. Es handelt sich nicht um ein partielles, sondern immer um ein vollständiges Bild des Gegenstands, nicht um eine Beschreibung, sondern um eine Anatomie. Das ist die Methode von Kisch.
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Welches Interesse könnte es sonst für die Beschreibung eines Bergwerks geben? Bergwerke sind schon tausendmal beschrieben worden, wie leicht wäre es, das Elend und die sozialen Verhältnisse, unter denen die Bergleute leben, in blutigen Worten zu beschreiben. Kisch tut es nicht: Er erzielt eine viel größere Wirkung, indem er die Produktion des Bergwerks und die amtlich registrierte Arbeitslosenstatistik, die Sterblichkeit und die Berufskrankheiten präsentiert. Kisch begnügt sich jedoch nicht mit dem neutralen Nennen der Zahlen, er gibt sich nicht mit den wirtschaftlichen, historischen, kulturellen und sozialen Aspekten des Themas zufrieden, er baut eine kraftvolle Gesellschaftskritik auf, die dem Leser eine verblüffende neue Perspektive bietet. Das Aufzählen der verschiedenen Fakten hat nicht die Wirkung einer objektiven Beschreibung, da die Elemente nicht nebeneinander gereiht, sondern miteinander verbunden sind und sich ergänzen. Sie interagieren miteinander auf eine Art und Weise, dass sie schließlich ein Weltbild vermitteln.
Dieser Schreibstil ist sehr weit von dem der bürgerlichen Reporter entfernt, diese versuchen ja nicht einmal den Eindruck der Vollständigkeit zu erwecken. Sie müssen sich mit Teilerscheinungen begnügen, wenn sie interessant bleiben wollen. Kisch hingegen ist gerade deshalb interessant, weil er ein vollständiges, neues Bild des Ganzen zeichnet.
Die größte Stärke von Kisch ist jedoch die Themenwahl, die sich ganz natürlich aus dem dialektischen Denken ergibt. Je trivialer das Thema für das bürgerliche Auge erscheint, desto interessanter wird das Bild gerade durch die Struktur der Schrift.
Deutsch von Márta Horváth
Történetek a gettóról. In: Gondolat, 1935, Heft 5 (Juni), 371–375.