Zsigmond Móricz: In Ungarn wird niemand verhungern
Es gab Tage, an denen die Menschen in Budapest von der Angst vorm Verhungern ergriffen wurden. Und diese Angst beherrschte nur die Bourgeoisie, sondern auch das Proletariat. Einige Tage lang schien die ländliche Bauernschaft die Verbindung mit dem Industrieproletariat verloren zu haben. Anscheinend wurde die Auffassung künstlich geschürt, dass es einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den beiden Teilen des Proletariats gibt.
Nun, nichts davon ist wahr.
Es ist wahr, dass die Anarchie alles zerstören kann, weil die verschiedenen Kräfte sich selbst aufzehren. Aber der ungarische Bauer liebt den ungarischen Gewerbetreibenden und hängt mit brüderlicher Fürsorge an ihm.
Ich habe das jetzt im Komitat Somogy gesehen.
Es gibt dort keine reichen öffentlichen Lagerhäuser und auch keine vollgestopften Kornkammern der Adligen, die einfach mit Transporten geleert werden könnten. Was leicht requiriert werden konnte, wurde schon früher sowohl aus Somogy als auch aus allen Teilen des Landes von den Hyänen des Kriegs weggetragen.
Aber als die Genossenschaft hier gegründet und organisiert wurde, warf die Leitung das Schlagwort in die Luft, dass die Hauptstadt hungert. Da trafen die proletarischen Bauern selbst die Entscheidung, pro Kopf vier Kilogramm Mehl abzugeben, und nach wenigen Tagen fuhren Züge mit Mehl nach Budapest, Züge mit vierzig oder sechzig Waggons, und jeden Tag wurden auch Hunderte von Rindern, Schweinen und Tausende von Schafen transportiert. Und jetzt braucht man weitere Züge für die Beförderung von Eiern.
Genosse Latinca zeigte mir auf der Karte, aus welchen Dörfern bisher Lebensmittel nach Budapest geliefert wurde. Das waren insgesamt ca. zehn bis zwölf Dörfer, aber dazu kommt noch der ganze Komitat Somogy! Und dazu kommt noch das ganze Land!
Das betrifft aber nur die Produktionsgenossenschaften, denn die Kleinbauern sitzen heutzutage ängstlich vor den Türen ihrer kleinen Kammern und denken, dass sie sich selbst verteidigen müssen.
Dagegen herrschen in den Genossenschaften heitere Ruhe und glücklicher Frieden. Der Arbeiterrat ist gerade gegründet worden und hat bereits die Arbeit übernommen: die Verwaltung, die öffentliche Disziplin sowie alle Angelegenheiten des Allgemeinwohls und der öffentlichen Pflichtarbeit. Auf den Feldern arbeiten Dutzende von Zugtieren in Jochen. Es herrscht erst seit einer Woche gutes Wetter, trotzdem gibt es kaum noch Landstücke, die nicht gepflügt worden wären, obwohl es zwischen den zwei Revolutionen vom 31. Oktober bis 21. März ununterbrochen regnete, sodass man wegen des Schlamms gar nicht arbeiten konnte. Umso mehr und härter wird jetzt gearbeitet, niemand verschwendet die Zeit. Jetzt kümmert man sich um sich selbst und um die anderen, und jeder arbeitet mit dem Gefühl, selbst der Herr zu sein.
Leider herrschte unter den Kleinbauern bisher der Irrglaube, dass sie nur so viel Lebensmittel produzieren sollten, wie sie selbst brauchen. Deswegen musste ihnen unter Androhung der Todesstrafe befohlen werden, ihr ganzes Ackerfeld zu bebauen. Seit die gleiche Verordnung vom Arbeiterrat verabschiedet wurde, hat der törichte Widerstand aufgehört. Bauern können kein größeres Verbrechen begehen, als das Land brach liegen zu lassen. Solche Menschen machen es sich eigentlich selbst schwer, denn die Arbeiterräte werden die genaue Statistik der Ackerflächen bekommen, und sie werden nicht requirieren oder prüfen, wer was und wie gedroschen hat, sondern sie werden den kleinbäuerlichen Gemeinden auf der Grundlage der Ackerfläche einfach vorschreiben, wie viel sie abliefern müssen. Schuhe und Kleidungsstücke wird man nur im Tausch gegen die abgelieferten Agrarprodukte kaufen können. Wenn also der Kleinbauer keinen Produktüberschuss hat, kann er keine Schuhe, Pferdegeschirre oder Sensen kaufen, auch wenn er zehntausend Kronen in der Tasche hat. Die Räteregierung hat bereits mehrere Waggons österreichische Sensen erhalten, aber diese werden jetzt und in Zukunft nur an Gewerkschaftsmitglieder verteilt. Die Kleinbauern können davon nur im Tausch gegen die abgelieferten Ernten bekommen.
Es war für mich gestern rührend, die Verteilung der Kleidermarken in Kaposvár zu beobachten. Die proletarischen Frauen kamen in Scharen in den Theaterraum, wo die Marken verteilt wurden: an einem Tisch für Schuhe, an einem anderen für Kleidungsstücke, an einem dritten für Textilwaren, an einem vierten für Haushaltsgeschirr und so weiter. Die Beamten, die die Marken verteilten, ermutigten die Frauen: „Brauchen Sie Leinen? Oder eine Bluse? Eine Schürze?“ Die Frauen hatten am Ende sechs, acht oder sogar zehn Marken in der Hand, als sie für den Stempel des Arbeiterrats Schlange standen. Zuerst wurde der Stempel auf das Mitgliedsbuch der Gewerkschaft gesetzt, dann auf die Marken. Die täglich eintreffenden Waren werden zum Verkauf an die Geschäfte verteilt und können nur mit einem solchen Gutschein gekauft werden, und zwar zum Einkaufspreis, zu dem noch eine Bearbeitungsgebühr von 10 Prozent hinzugerechnet wird. Von einigen Waren gibt es nicht genug auf Lager, so groß ist die Nachfrage, aber die hiesigen Proletarier sind ruhig, denn sie wissen, dass die Waren im Austausch für die aus dem Komitat gesandten Lebensmittel ständig eintreffen und dass niemand etwas für Geld kaufen kann, solange ihre Gutscheine nicht eingelöst sind. Jetzt hat das Proletariat von Kaposvár in wenigen Tagen mehr Sachen gekauft als in den vier Jahren des Kriegs. Ich selbst beneidete sie und bat sie, mir Nähfaden zu geben. Sie hatten einen Waggon hervorragenden italienischen Faden, wofür sie mit Wein und Spirituosen zahlten. Ich habe sechs Fadenringe für 48 Kronen bekommen. Meine Frau konnte die zerrissenen Kleidungsstücke unserer Kinder schon seit Wochen nicht mehr flicken, weil ihr der Faden fehlte. Also entwickelt sich die neue Welt ruhig und gut geregelt. Sie wird viel schöner, glücklicher und ruhiger sein als die alte.
Der Kommunismus, den naive Menschen in ihrer Einbildung fürchteten, weil sie in ihm den Kerker der sozialistischen Gesellschaft sahen, wird das großartige Zeitalter der wahren Entfaltung von Individuen mit sich bringen.
In Ungarn wird niemand verhungern, jetzt erst fängt das wirklich glückliche menschliche Leben an.
Deutsch von Orsolya Rauzs
Móricz Zsigmond: Magyarországon nem hal éhen senki. In. Pesti Hírlap 15.–17.04.1919, Pesti Hirlap. Neuabdruck: Magyar Csillag, 01.03.1949, Heft 16, S. 5.